© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

CD: Bach
Klage und Lobpreis
Sebastian Hennig

Die Erschließung der Schatzkammern des Deutschlandradios hat das Label Audite jetzt zu den Bach-Kantaten geführt. Schon im Sommer 1946 wurde ein umfangreicher Zyklus vorbereitet. Damit verbunden war der Aufbau eines Chores und eines Kammerorchesters durch Karl Ristenpart. Am 3. Oktober wurde dann die erste Kantate gesendet. Ab 1947 ging vierzehntägig ein neues Werk in den Äther.

Die ersten Konzertsendungen wurden zur Übertragung noch direkt im Studio musiziert. Der Sendebedarf für die sonntägliche „Evangelische Morgenfeier“ mußte gedeckt werden. Die früheste Aufnahme dieser Edition stammt vom Oktober 1949. Da lief die Unternehmung schon drei Jahre. Während in den ersten beiden Jahren heute kaum mehr bekannte Sänger besetzt waren, hatten unterdessen Agnes Giebel, Helmut Krebs, Dietrich Fischer-Dieskau die Darbietung mit ihren Stimmen geprägt. Die Stimme der Ingrid Lorenzen verbindet Ristenparts Bach mit den zeitgleichen Interpretationen des Leipziger Thomaskantors Günter Ramin, der oft auf die Altistin zurückgriff.

Viele der Bach-Mitschnitte fielen 1950 einer Revision zum Opfer. Das Bandmaterial hatte sich wesentlich verbessert. Aus rundfunktechnischen und archivarlischen Erwägungen wurden Bänder gelöscht. So schreibt die Technik Interpretationsgeschichte. Im folgenden Bach-Jahr wurden allein 47 Kantaten eingespielt.

Insgesamt entstanden 107 Einspielungen von 78 Werken, wovon die Zusammenstellung 29 Kantaten vorstellt, die als Höhepunkt der Bemühungen jener Jahre gelten können. Ristenparts Interpretationen stehen näher und zugleich eigenwilliger neben der neueren historischen Aufführungspraxis als die frühen Anfänge von manchen Vertretern jener Richung. Er bewahrt eine maßvolle Position zwischen der suggestiven Monumentalisierung und der spitzfindigen Askese in der Bach-Deutung. Das sängerische Legato herrscht vor, die Worte bleiben gleichwohl verständlich und tragend. Der RIAS-Kammerchor durchläuft hier die respektable Vorgeschichte seines späteren Ruhmes.

Der strenge Pietismus der Kantatentexte steht noch ganz in jenem Bann, der die Dichter des Dreißigjährigen Krieges fesselte. Die Kunde von der umfassenden Leidensgeschichte und dem ergiebigen Opfer waren tröstliche Angebote für das flächendeckende Mißgeschick eines alles lähmenden Zustands. „Ich hatte viel Bekümmernis“, „Mein Herze schwimmt im Blut“ und „Herr, wie du willt, so schick’s mit mir“, das klingt noch nach Andreas Gryphius und Simon Dach. Aber die Musik von Bach tanzt insgesamt hinüber zu Beschwörungen wie „Weichet nur, betrübte Schatten“ und „Gott der Herr ist Sonn und Schild“. Hier ordnet sich aus den rauchenden Trümmern eine frische neue Welt. „Die Welt wird wieder neu, Auf Bergen und in Gründen Will sich die Anmut doppelt schön verbinden, Der Tag ist von der Kälte frei.“

Die Kantaten sind in ihrer durch das Kirchenjahr zeitlich festgelegten Abfolge geordnet. Am Ende steht „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ von Georg Philipp Telemann. Da das Werk zur Einspielungszeit noch eine Nummer im Bach-Werkverzeichnis trug, wird es hier mitgereicht. Das ist eine sinnvolle Entscheidung.

The RIAS Bach Cantatas Project Box-Set mit neun CDs, Audite, 2012 www.audite.de

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