© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Grüße aus Moskau
Russischer Widersinn
Thomas Fasbender

Modernisierung gehört zu den Lieblingsworten des scheidenden russischen Präsidenten Dmitri Medwedew. Die Realität, so kolportieren die Medien, sei davon weit entfernt. Der Alltag straft das Urteil Lügen. In jedem Tante-Emma-Laden steht ein Automat, an dem man Strafmandate und Kommunalgebühren zahlen kann, aber auch Rechnungen für Mobiltelefon, Internet und viele andere Dienstleistungen. Oft rund um die Uhr. Überhaupt erinnert in Moskau vieles an die Lebensqualität von New York. Lebensmittel werden für ein paar Euro Aufpreis an die Wohnungstür gebracht.

Zur russischen Wirklichkeit gehört jedoch der Widersinn. Heute wollte ich viertausend Rubel – hundert Euro – auf ein fremdes Konto einzahlen. Bei der Bank verlangte man meinen Paß, Name und Vorname, den Ausstellungsort und die Frist der Gültigkeit. In der Filiale derselben Bank einen Kilometer weiter steht zum selben Zweck ein Automat. Dort gebe ich die 16stellige Kontonummer ein und schiebe Bargeld in einen Schlitz, das war’s. Ich mache die junge Dame am Schalter darauf aufmerksam. Sie lächelt müde. So sei das eben.

Russen sind genial begabt, sich mit jeder Form von Wirklichkeit abzufinden. Niemand fragt, warum etwas so ist, wie es ist. Die Sorge um das Wie reicht. Den Luxus tiefschürfender Gedanken überläßt man Völkern wie den Deutschen.

Entsprechend wird auch die Causa Timoschenko und das Schicksal der Fußball-EM mit leisem Amüsement betrachtet. In den Augen der politischen Klasse hat der Westen sich das Problem ohnehin selbst eingebrockt. War das Turnier nicht von Anfang an gedacht als Symbol der Einbindung der Ukraine in die sogenannte westeuropäische Wertegemeinschaft? Zum Zeitpunkt der Vergabe Ende 2005 regierten in Washington die Republikaner – traditionell rußlandkritisch, um es sanft auszudrücken. Und der damalige ukrainische Präsident hieß Wiktor Juschtschenko, angeblich eine Lichtgestalt der Demokratie.

Inzwischen hat sich das Kräfteverhältnis umgekehrt, ein anderer Wiktor ist in Kiew an der Macht: Janukowitsch, nicht zuletzt ein Resultat russischer Lobbyarbeit. Amerikanische PRO-Raketen keine hundert Kilometer vor Brjansk oder Kursk, auch wenn sie vermeintlich der Abwehr des Terrorismus dienen, sind für Rußland der ultimative Alptraum. Schöne Worte hin oder her – für Rußland hat Sicherheit Priorität. Modernisierung findet im Alltag statt.

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