© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/12 27. April 2012

Eine Idee bricht ins Sichtbare
Die Bedeutsamkeit liegt im Auge des Malers: Seltene Gemälde des Norwegers Edvard Munch in der Schirn-Kunsthalle in Frankfurt am Main
Sebastian Hennig

Eine beachtliche Auswahl von Werken Edvard Munchs wird derzeit in Frankfurt am Main in der Schirn-Kunsthalle ausgebreitet. Viele Bilder waren noch nie außerhalb der Heimat des Malers zu sehen. Nach seinem Tod ging der Nachlaß an die Stadt Oslo. Das Munch-Museum hat diese Ausstellung zusammengestellt.

Das Werk eines Künstlers, wie es abgeschlossen den Nachfolgenden entgegenragt, ist offenbar zu wenig. Es bedarf einer These, die fest auf fast jedem Grund haftet, wenn etwas „modern“ dazugegeben wird. Trotz seiner altertümlichen Anhänglichkeit an mystisch-metaphorische Panoramen wird für die Bildwelt des Malers „Der moderne Blick“ festgestellt. „Der Blick des Malers“ hätte sicher mehr und Genaueres ausgesagt.

Dieser hält sich erstaunlich eng an seine Anschauung, so daß er Jahrzehnte nach einem privaten Ereignis dessen räumliche und figürliche Entfaltung noch einmal nachstellt. Ein weibliches Modell berichtet, wie es im weißen Anzug für eine Szenerie posieren mußte, die sich in der bedrängten Situation während der staatlichen Lösung Norwegens vom schwedischen Mutterland 1905 ereignete. Es kam damals im Freundeskreis zu einem Streit über die physische Wehrbereitschaft des Malers. Freilich befand sich der Trunksüchtige außerstande, seine Haltung durch einen Militärdienst zu bekräftigen. Da patriotische Kundgebungen ihm ein Bedürfnis waren, glaubte er den Zweifel an seiner Gesinnung nur mit Blut abwaschen zu können. Ein Wort gibt das andere und die angetrunkenen Männer torkelten auf die Straße. Bei einem heftigen Schlag verstauchte sich der Maler sein Handgelenk, der Freund Ludvig Karsten verströmt sein Blut auf seinen eleganten Anzug.

Aber das hat noch nicht ernüchtert. Nachdem Munch wieder ins Haus zurückgekehrt ist, bringt er durch das geöffnete Fenster seine Flinte auf die versöhnungsbereiten Freunde in Anschlag. Dreißig Jahre später hat er in großen Gemälden die Rauferei aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. Ein grotesker Schütze zielt auf zwei puppenhafte Gestalten in der Fensteröffnung: „Unerwünschte Gäste“. Daß sie zu solchen erst kürzlich wurden, davon zeugen die Gläser und Flaschen eines Gelages im Rücken des aufgebrachten Gastgebers. Auf einem anderen Bild wird eine besonnte Straße zum Schauplatz unbesonnener Handgreiflichkeiten. Die zinnoberrote Blutspur von der Stirn setzt sich auf der weißen Jacke fort.

Beschäftigung mit der eigenen Person, der reckenhaften Statur, dokumentieren auch die Fotoselbstporträts in Asgardstrand, Ekely, Warnemünde oder mit der Krankenschwester in der Kurklinik in Kopenhagen. Auf eine ungeordnete, jähe Art wurde hier geknipst. Munch mißtraut dem Eindeutigen und Statischen. Inszenierungen, beispielsweise im weißen Tuch als Marat, ergeben sich aus der Augenblickslaune heraus. Darin liegt der Reiz der Aufnahmen, wie der Gemälde: Eine Idee gärt sich aus und bricht dann ohne Vorbehalt ins Sichtbare.

Die eigene Erscheinung fesselte den Maler, er rätselte um sein Selbst, wie um das Geheimnis der einzelnen besonders gelungenen Bildfindungen. Wie der Jäger und Sammler gute Fundstellen und Jagdgründe wieder aufsucht, so bemüht sich der begnadete Maler um Anschluß an das stattgehabte Mysterium, will wieder in den Gnadenstand der Erfüllung zurücktreten. Es handelt sich bei den Jahrzehnte später entstandenen Repliken von „Das kranke Kind“, „Pubertät“, „Vampir“ und „Kuß“ weniger um Wiederholungen als vielmehr um konservierte Echos auf einen lang schon verhallten Urschrei.

Zwingende Bilderscheinungen noch einmal ins Sichtbare zu zwingen, das hat zeitgleich auch James Ensor beschäftigt. Alkoholika dienten beiden als Treibstoff zu großen Explosionen aus der Tiefe und waren zugleich die Verhinderer einer regelmäßigen Durchdringung in der Breite. Die Tagesverfassung dokumentiert sich in den Bildern. Bei „Zwei Menschen. Die Einsamen“ geht zwischen der Fassung von 1905 und der von 1935 alles so aus dem Lot, daß das spätere Gemälde wie der Systembausatz zu einem Munch-Bild wirkt, das nie vollständig zusammengefügt wurde.

Andererseits gelangen die „Mädchen auf der Brücke“ im gleichen Zeitraum zu einer unbestreitbaren Verdichtung. Sie lehnen nun als stark gefaßte Gruppe am Geländer, die langen Bänder oder Zöpfe laufen parallel über die schmächtigen Rücken, und hinter der dunklen Wasserfläche breitet sich eine gewaltige Weide. Alles Beliebige wurde der Darstellung ausgetrieben, es bleibt eine Unausweichlichkeit in Farbe und Form zurück. Eine beunruhigende Stabilität von Figuren und Landschaft breitet sich auf der Leinwand aus. Der neunmalkluge Kunsthistoriker kann also ebensowenig eine Formel des Gelingens aus des Künstlers Pathologie herausrechnen und die absolute Dichte seiner Werke zum Verlauf seines Lebens in eine statistische Beziehung setzen, wie es dem Künstler gelungen ist, seine Möglichkeiten stetig verfügbar zu erhalten. Aber es bleibt noch genug zu erwägen und zu klügeln.

Wenn der Blick letztlich immer wieder zurückkehrt zu den Kunstwerken, dann schaden die Reflexionen nichts. Die weniger Gelungenen werden nicht besser und die Guten verlieren nichts von ihrer Ausstrahlung. Trotz der Verheißungen des Ausstellungstitels und der Erörterungen im Katalog kann dieses Ereignis einfach als Ausstellung von Bildern aufgefaßt werden. Das ist eine mutige und sehr unkonventionelle Art, Gelegenheiten beim Schopfe zu fassen.

Die Ausstellung „Edvard Munch – Der moderne Blick“ ist bis zum 28. Mai in der Schirn- Kunsthalle Frankfurt, Römerberg, täglich außer montags von 10 bis 19 Uhr, Mi./Do. bis 22 Uhr, zu sehen. Telefon: 069 / 29 98 82-0. Der Katalog mit 320 Seiten und 300 Abbildungen kostet 34,80 Euro. www.schirn.de

Foto: Edvard Munch, Mädchen auf der Brücke (1902); Die Mädchen auf der Brücke (1927): Alles Beliebige wurde der Darstellung ausge-trieben

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen