© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/12 27. April 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Bildungsbericht in loser Folge XXII: Schon bemerkenswert, daß der erste Hauptsatz der Gluckenpädagogik „Keiner darf zurückbleiben“ beziehungsweise das amerikanische Äquivalent „No one left behind“ auf das Prinzip der US-Marines zurückgeht, keine Gefallenen im Feindesland zu lassen.

Das Politikverständnis der Piratenpartei erinnert an die Bemerkung Erik von Kuehnelt-Leddihns, die Demokratie werde erst dann vollendet sein, wenn es eine Apparatur gebe, die es jedem Bürger erlaube, an jedem Morgen aufs neue über die Staatsform abzustimmen. Nur hatte Kuehnelt das satirisch gemeint.

Die in der aktuellen Ausgabe von Sinn und Form (zweites Heft 2012) veröffentlichten Gesprächsprotokolle des Arztes Heinrich Huebschmann, der 1942 verschiedene Gelehrte – darunter Eduard Spranger, Viktor und Carl Friedrich von Weizsäcker sowie Theodor Litt – aufsuchte, sind eine deprimierende Lektüre. Das liegt weniger an den Umständen des Krieges, die sich kaum bemerkbar machen, sondern an der Hilflosigkeit der bürgerlichen Gelehrten angesichts der Notwendigkeit, die eigene Lage zu begreifen und angemessen zu reagieren. Die Fragen, die Huebschmann stellte, sollten zur Klärung der ganz großen Themen dienen, von den negativen Folgen des Rationalismus bis zum „titanischen“ Charakter der modernen Technik und deren Emanzipation vom Menschen. Aber letztlich kreiste alles um den Wunsch nach Rückzug ins Private, die Sehnsucht nach einer heilen Welt (im „ganzheitlichen“ Mittelalter), Erlösung in eigener (durch den Katholizismus oder die Mystik oder den erneuerten Idealismus) oder fremder Gestalt (das Urchristentum, den Buddhismus, eine Synthese aus Physik und Philosophie). Der Eindruck großer Einsamkeit, den die Wiedergaben hinterlassen, berührt menschlich, es ist auch unbestreitbar, wie wenig wir seitdem vorangekommen sind, aber man versteht auch immer besser, warum diese Seite weder 1933 noch 1945, noch 1968 hinreichend Widerstand geleistet hat.

Man sollte zur Erklärung der Tendenz in Grassens Gedicht noch darauf hinweisen, daß er in einer Phase politisch sozialisiert wurde, als es zu den Selbstverständlichkeiten der deutschen Linken gehörte, sich mit den Juden zu identifizieren. Nicht in dem Sinn, in dem die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft Solidarität mit Israel übte, sondern als Teil des Dauerphantasmas, daß man in einem „faschistischen“ System lebte und „Widerstand“ leistete und zu denen gehörte, die demnächst „ins Lager“ kommen würden, „wie 33“. Diese Vorstellung hat seit den 1960er Jahren Veränderungen erlebt, aber nie wurde der Gedanke korrigiert, daß der Linke selbst eigentlich nicht zu den „Tätern“ gehörte, sondern zu den „Opfern“, daß noch in dem emphatisch-bußbereiten „Wir Deutschen!“ ein „Ihr Schweine!“ steckte, und umgekehrt die realexistierenden Israelis, die dem fortschrittlichen arabischen Lager so lästig im Weg standen, in die Nähe von „Nazis“ rückten und sich die Palästinenser in „neue Juden“ verwandelten.

Normalerweise findet sich für jede Unabhängigkeitsbewegung eines Drittweltvolks irgendeine Sympathisantengruppe oder NGO, die die Rechte der Eingeborenen vertritt, selbst wenn die mit terroristischen Mitteln kämpfen. Nichts davon im Fall der Tuareg. Es endet die Begeisterung für diversity prompt, wenn etwas wirklich verschieden ist, so verschieden wie eine Kultur, die in ihrem Kern auf Kriegertum und Hierarchie basiert.

Den Würdigungen zum 85. Geburtstag von Klaus Harpprecht fehlt regelmäßig ein Hinweis auf dessen konservative Anfänge in den fünfziger Jahren. Damals galt er als eine der großen Hoffnungen des im weiteren Sinn „rechten“ Feuilletons und nahm entsprechend an der legendären Umfrage des Monats „Was heißt heute konservativ?“ von 1960 teil. Allerdings konnte man da schon erkennen, daß Harpprecht Absetzbewegungen einleitete. Er ahnte früh, daß auf dieser Seite des politischen Spektrums nichts mehr zu gewinnen war und beschloß, seine – beträchtlichen – intellektuellen Fähigkeiten in den Dienst des Gegners zu stellen. Seitdem er das Redenschreiben für Willy Brandt übernommen hatte, war endgültig klar, welchen Brotherrn Harpprecht diente. Er wurde zu einem der erfolgreichsten linksliberalen Publizisten der Nachkriegszeit, behielt aber die konservative Attitüde in Auftreten, Kleidung, Manieren bei. Harpprecht hat sich intensiv mit Thomas Mann beschäftigt, dem er eine zweitausend Seiten umfassende Biographie widmete, und den er als Vorläufer seines eigenen Typus betrachtet (wenngleich die Frankophilie besser zum Bruder Heinrich paßte).

„Die Bewahrung des wenigen, das noch vorhanden ist, sollte uns heute fast zur fixen Idee werden“ (Simone Weil).

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 11. Mai in der JF-Ausgabe 20/12.

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