© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/12 27. April 2012

Warnung vor einem „Tsunami des Hasses“
Lobbyarbeit: Kritik an Israel wird gern mit dem „Killerargument“ Antisemitismus im Keim erstickt – starke Lobbyorganisationen ziehen im Hintergrund die Fäden
Michael Wiesberg

Es war ein Stich ins Wespennest und die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Gemeint ist Günter Grass’ Gedicht „Was gesagt werden muß“ und der mediale Wirbel, der sich an der Feststellung entzündete, die „Atommacht Israel gefährde den ohnehin brüchigen Weltfrieden“. Es hagelte Verdammungsurteile, die letzte Woche in der Aufforderung des Präsidenten des European Jewish Congress, Moshe Kantor, gipfelten, das politische Führungspersonal Europas müsse jetzt handeln, um „einem Tsunami des Hasses“ gegen Juden vorzubeugen, falls die Situation im Nahen Osten eskaliere.

Am Wochenende legte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu in einem Interview mit der Welt am Sonntag (WamS) nochmals nach und versuchte jeder Form von Zustimmung für Grass den Boden zu entziehen, als er erklärte: „Und die, die nun mit dem übereinstimmen, was Günter Grass über den jüdischen Staat sagt, sollten sich die Frage stellen, ob sie dann nicht auch zur Zeit des Holocaust mit den Verleumdungen gegen Juden übereingestimmt hätten.“ Das sei „die Frage, die sich die Deutschen stellen müssen“.

Die durchgängige Verdammung von Grass – sieht man von einigen Blättern des linken Spektrums ab – steht im Widerspruch zum Empfinden vieler Deutscher. Laut einer Online-Umfrage der Financial Times Deutschland waren 57 Prozent der Befragten der Meinung, Grass’ Israel-Kritik sei gerechtfertigt. Nur vier Prozent vermochten hier „Antisemitismus“ zu erkennen; elf Prozent waren der Meinung, das Gedicht sei „gefährlich“ oder gar „irrsinnig“ (Stand: 8. April). Anders hingegen fiel das Ergebnis einer Umfrage aus, die die WamS in Auftrag gegeben hatte. Diese Umfrage, so verkündete die Zeitung am Wochenende, sieht eine „klare Mehrheit der Deutschen an Israels Seite“.

Der Zuspruch, den Grass dessenungeachtet erhalten hat, spiegelt sich indes in keiner Weise in den Medien wider. Man mag dieses Auseinanderdriften von „öffentlicher“ und „veröffentlichter Meinung“ als einen Ausdruck des „besonderen Charakters“ der deutsch-israelischen Beziehungen begreifen, in deren Tabuzonen sich schon vor Grass manch andere zu weit vorgewagt hatten und entsprechend abgestraft wurden.

Dieses schwierige Terrain wird durch die hocheffiziente Lobbyarbeit jüdischer Gruppen, die sich im „Bedarfsfall“ zu einem vielstimmigen proisraelischen Chor vereinen und israelkritische Stimmen marginalisieren, weiter aufgeladen. Zu diesem Netzwerk in Deutschland gehören, ohne hier einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, Publizisten, Journalisten, Politiker, aber auch Institutionen wie das Leo-Baeck-Institut, der Zentralrat der Juden in Deutschland, das Zentrum für Antisemitismusforschung, das jüdische Online-Magazin Hagalil oder die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG). Letztere hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1966 zur „größten bilateralen Freundschaftsgesellschaft“ (DIG-Eigenangabe) in Deutschland entwickelt. Knapp 6.000 Mitglieder beweisen hier in überparteilicher Zusammenarbeit ihre „Solidarität mit dem Staat Israel und seiner Bevölkerung“ sowie ihren Kampfeswillen gegen „Antisemitismus und Antizionismus“.

Entsprechend heftig kritisierte als einer der ersten DIG-Präsident Reinhold Robbe (SPD) den Grass-Text als „wohlfeiles Moralgezeter“: „Selbst ohne Antisemitismus zu unterstellen, gegen den sich Grass in dem ‘Gedicht’ selbstherrlich verwahrt, kann man doch angesichts solch plumper, primitiver Rhetorik staunen – und sich ärgern.“

„Judenfeindliche Klischees ohne Ende“ diagnostizierte im Anschluß daran der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann. In einem Beitrag für das Handelsblatt hielt er „klare Worte“ gegenüber dem Nobelpreisträger für angebracht. „Denn: Wer antisemitisch agitiert, wer judenfeindlich argumentiert, wer antisemitische Klischees zuhauf verwendet – was wäre der denn anderes als ein Antisemit?“

Doch Grass ist kein Einzelfall. Daß das Renommee eines Israel-Kritikers im Zweifelsfall keine Rolle spielt, zeigt zum Beispiel die Kampagne, die gegen den ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter vom Zaun gebrochen wurde, als er sein (durchaus ausgewogenes) Buch „Palestine: Peace not Apartheid“ (2006) veröffentlichte. Carter, der immerhin eine exponierte Rolle im israelisch-ägyptischen Friedensprozeß spielte, wagte es, im Zusammenhang mit der Lage der Palästinenser im Westjordanland von „Apartheid“ zu sprechen und kritisierte, daß es in den USA schwierig sei, eine offene und ehrliche Diskussion über Themen wie dieses zu führen. Die Reaktionen der Protagonisten der „Israel-Lobby“ ließen nicht lange auf sich warten: Die Historikerin Deborah Lipstadt befand in der Washington Post, Carter habe auf „traditionelle antisemitische Mißdeutungen zurückgegriffen“, und der Publizist Martin Peretz verstieg sich im Weblog des US-Politikmagazins New Republic sogar zu der Aussage, Carter werde als „Judenhasser in die Geschichte eingehen“. Carter selbst gab gegenüber der Jerusalem Post resigniert zu Protokoll: „Ich wurde als Antisemit bezeichnet. Ich wurde als Plagiator bezeichnet. Ich wurde als Feigling bezeichnet.“

Wenn selbst ein ehemaliger US-Präsident, der sich überdies um die Sicherheit Israels verdient gemacht hat, in einer derartigen Auseinandersetzung nicht mehr Fürsprecher um sich vereinen kann, dann ist das ein Indiz für die Durchschlagskraft einer Netzwerkarbeit, hinter der Organisationen und Personen stehen, für die sich der Begriff „Israel-Lobby“ eingebürgert hat. Hier stehen die USA beispiellos da.

Nur an der Spitze dieses Netzwerks stehen bekannte Organisationen wie die Anti-Defamation League (ADL), B‘nai B‘rith, das American Jewish Committee (AJC), der Jüdische Weltkongreß (WJC)und vor allem das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC), eine der effizientesten Lobbyorganisationen der USA. Dazu kommen einflußreiche Zeitungen, an deren Spitze die New York Times steht.

Wie stark der Einfluß dieses Netzwerkes ist, mußten vor allem die beiden renommierten US-Politikwissenschaftler Stephen M. Walt und John J. Mearsheimer erfahren, die die bisher umfassendste Analyse des proisraelischen Netzwerkes in den Vereinigten Staaten vorgelegt haben. Es sind im wesentlichen zwei Thesen, die die beiden in ihrem Buch „The Israel Lobby and U.S.-Foreign Policy“ (2006/2007; dt.: Die Israel-Lobby. Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflußt wird, 2007) formulieren: Die uneingeschränkte Unterstützung Israels durch die Vereinigten Staaten diene nicht den strategischen Interessen der Vereinigten Staaten, weil sie keineswegs, so die eine These, zu einer Verbesserung der Sicherheit der Vereinigten Staaten führe. Darüber hinaus habe das einseitige Engagement der Vereinigten Staaten zugunsten Israels in der arabischen Welt einen weitverbreiteten Antisemitismus ausgelöst. In einer historischen Analyse des Nahostkonflikts kommen die Autoren zu dem Ergebnis, daß sich Israel nicht „moralischer“ als seine Gegner verhalte.

Daß die Nahostpolitik der USA nicht US-Interessen diene, so die andere These, führen die Autoren auf das Netzwerk der Israel-Lobby zurück, deren Einfluß den anderer Gruppen übersteige. Diese Lobby sei im Kern ein engmaschiges Geflecht von Intellektuellen, Politikern und Interessengruppen, an deren Spitze das AIPAC stünde.

Mit einer Vielzahl von Belegen zeigen Mearsheimer und Walt, wie es diesem Netzwerk gelingt, mißliebige Meinungen aus dem Diskurs zu drängen oder Kongreßabgeordnete und Regierungsmitglieder beeinflußt werden. Ziel sei es, Kritik an der Regierungspolitik Israels zu unterbinden oder Initiativen, die auf eine Änderung der israelischen Politik hinausliefen, ins Leere laufen zu lassen.

Auch wenn beide Autoren betonen, daß nach ihrer Definition der Großteil der US-amerikanischen Juden, der sich nicht aktiv für Israel engagiert, nicht zur Israel-Lobby zähle, wohl aber nichtjüdische Intellektuelle oder auch „christliche Zionisten“, blieb ihnen der Antisemitismusvorwurf nicht erspart. Bezeichnenderweise findet sich zu diesem Vorwurf im Buch eine aufschlußreiche Analyse, konstatieren die Autoren doch, daß der „Vorwurf des Antisemitismus“ eine der „mächtigsten Waffen der Lobby“ beziehungsweise ein „Killerargument“ sei. Daß diese „mächtige Waffe“ auch auf Günter Grass gerichtet wurde, zeigt an, welche Bedeutung seinem Gedicht zugemessen wird.

Proisraelische Lobbygruppen sprechen gerne von einem „neuen Antisemitismus“, dessen Ausdruck die Kritik an Israel sei. Mearsheimer und Walt halten dagegen fest, daß die Angst, als „Antisemit“ geächtet zu werden, viele davon abhalte, überhaupt Kritik an Israel zu üben. Es bestünde nämlich „die Gefahr, aus der Öffentlichkeit ausgegrenzt zu werden“. Die Karte des Antisemitismusvorwurfes sei allerdings, so konstatierte der „Neocon“ William Kristol bereits im März 2006 im Wall Street Journal, durch die „etablierten jüdischen Organisationen“ so oft ausgespielt worden, „daß sie nicht mehr sticht“.

Dessen ungeachtet wertet Moshe Kantor Grass und sein Gedicht als Präzedenzfall, der weiter zur Verschlechterung der Lage der Juden in Europa beiträgt. Es trage zur Vergiftung der Atmosphäre bei, wenn jemand derart „verdrehte, wahnhafte Ideen“ propagiere. Grass’ Worte, so der Präsident des European Jewish Congress weiter, bildeten zudem die Saat für diejenigen, die die Juden für alle Krankheiten der Welt verantwortlich machten. Von hier sei es dann nur noch ein kleiner Schritt zu antisemitischen Äußerungen und Taten.

Foto: Präsident Obama bei der einflußreichen US-Israel-Lobbyorganisation AIPAC (März 2012) : „Im Streit mit Iran alle Möglichkeiten offenhalten“

 

Deutsche und internationale Pro-Israel-Organisationen

Zentralrat der Juden in deutschland

gegründet: 19. Juli 1950 Hauptsitz: Berlin Vorsitzender: Dieter Graumann www.zentralratdjuden.de

 

Anti-Defamation League

gegründet: 1913 Hauptsitz: New York Vorsitzender: Abraham Foxman www.adl.org

 

EUROPEAN JEWISH CONGRESS

gegründet: 1986 Hauptsitz: Paris / Brüssel Vorsitzender: Moshe Kantor www.eurojewong.org

 

WORLD JEWISH CONGRESS

gegründet: 1936 Hauptsitz: New York Vorsitzender: Ronald S. Lauder www.worldjewishcongress.org

 

DEUTSCH-ISRAELISCHE GESELLSCHAFT

gegründet: 1966 Hauptsitz: Berlin Vorsitzender: Reinhold Robbe www.deutsch-israelische-gesellschaft.de

 

american Israel public affairs committee (AiPAC)

gegründet: 1953 Hauptsitz: Washington Vorsitzender: Howard Kohr www.aipac.org

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