© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Kaiser Friedrich der Tragische
Die Tagebücher Friedrichs III. aus den Jahren 1866 bis 1888 zeichnen ein anschauliches Bild des Monarchen und räumen mit Legenden auf
Marcus Schmidt

Halsschmerzen“, notiert der preußische Kronprinz Friedrich am 18. Mai 1867 lakonisch in seinem Tagebuch. Am folgenden Tag entdeckt der Leibarzt des Prinzen „in den stark angeschwollenen Schleimhäuten auch ein Geschwür am Gaumen, dicht beim Kehlkopf, das er sofort mit Höllenstein touchirte“, wie Friedrich vermerkte. Die geplante Reise nach Paris mußte ins „Ungewisse“ verschoben werden.

In der Rückschau kann dieser Eintrag als Beginn des langen Leidens gedeutet werden, das 21 Jahre später nach gerade einmal 99 Tagen Regentschaft als deutscher Kaiser und König von Preußen zum Tode Friedrichs führte. Da hatten die zahlreich konsultierten deutschen und englischen Ärzte, nach diversen Aufenthalten Friedrichs an den unterschiedlichsten Kurorten in ganz Europa mit ausgedehnten Gurgeltherapien, längst Kehlkopfkrebs diagnostiziert.

Der frühe Tod Friedrichs III. am 15. Juni des „Dreikaiserjahres“ 1888 bietet seit jeher reichlich Stoff für Spekulationen und die unter deutschen Historikern verpönte aber dennoch überaus reizvolle Frage „Was wäre wenn?“ Welchen Weg hätte Deutschland genommen, wenn dem als liberal geltenden Friedrich III. mehr Zeit auf dem Thron vergönnt gewesen wäre? Hätte er, der mit der ältesten Tochter von Queen Victoria verheiratet war, das Reich an die Seite Englands geführt und damit die verhängnisvolle Einkreisung Deutschlands verhindert und so unter Umständen die Katastrophe des Ersten Weltkrieges abwenden können?

Die jetzt von dem Mainzer Historiker Winfried Baumgart herausgegebenen Tagebücher Friedrichs aus den Jahren 1866 bis zu seinem Tode 1888 geben Gelegenheit, diesen Fragen nachzugehen. Zugleich bieten sie einen guten Einblick in den Alltag eines Mitgliedes des europäischen Hochadels des 19. Jahrhunderts zwischen Truppenbesuchen, Auslandsreisen, politischen Gesprächen und Freud und Leid eines Familienvaters.

Dabei wird schnell deutlich, daß Friedrich als liberale Hoffnung für ein Deutschland nach englischem Vorbild zu einem nicht unwesentlichen Teil das Produkt nachgeborener Historiker ist, die Friedrich all die politischen Überzeugungen zugeschrieben haben, die sie bei seinem Sohn Wilhelm II. vermißten. Erst seitdem dieser in der Geschichtsschreibung eine Neubewertung erfährt, die von dem Bild Wilhelms als vormodernem Kriegstreiber nicht mehr viel übrigläßt und die Modernität des Kaisers und seines aufstrebenden und überaus dynamischen Reiches herausarbeitet, ändert sich auch der Blick auf Friedrich III., wird seine Rolle als positiv gezeichnetes politisches Gegenbild zu Wilhelm II. brüchig.

Baumgart kommt denn auch zu der für den Kurzeitkaiser wenig schmeichelhaften Einschätzung, daß Friedrich seiner Zeit wohl kaum einen besonderen Stempel aufgedrückt hätte. Dafür sei seine Persönlichkeit zu einfach strukturiert gewesen, glaubt der Historiker. Der von seinem Sohn geprägten wilhelminischen Epoche wäre also vermutlich kein neues friderizianisches Zeitalter vorausgegangen, hätte Friedrich III. zehn oder gar zwanzig Jahre regiert. Dennoch lassen sich in den Tagebüchern durchaus zahlreiche Hinweise auf die relativ liberale Haltung Friedrichs finden, und auch die durch die Herkunft seiner Frau bedingten engen Beziehungen zu England werden ausgiebig dokumentiert. Als aus heutiger Sicht „fortschrittlich“ präsentiert sich Friedrich etwa in der Frage der Todesstrafe, die er vehement ablehnte. „Ein schwerer Tag in meinem Leben!“ vermerkt er unter dem Datum 8. August 1878, als er in Vertretung seines Vaters das Todesurteil für den Attentäter unterzeichnete, der am 11. Mai 1878 ein mißglücktes Revolverattentat auf Wilhelm I. verübt hatte. „Nichts bleibt mir in dem Abschnitt der Stellvertretungsthätigkeit erspart, mir der ich mich der Illusion hingab, dereinst keine Todesurtheile mehr vollstrecken zu lassen“, schreibt Friedrich. Kurz darauf wurde der Attentäter hingerichtet.

Für seine Zuneigung zu England exemplarisch ist der euphorische Eintrag vom 17. Juli 1878. „England hat Cypern in Besitz genommen, worüber ich sehr glücklich bin, denn es herrscht nunmehr jenen Theil des Mittelmeers, der die Straße nach Indien bedeutet!“ Doch läßt sich daraus schon eine Prognose ableiten, welchem Erfolg eine englandfreundliche Außenpolitik Friedrichs beschieden gewesen wäre? Auch Wilhelm II., durch seine Mutter strenggenommen selbst ein halber Engländer, war ein glühender Bewunderer Englands; seine Großmutter Queen Victoria starb in seinen Armen. Dennoch fanden das etablierte britische Empire und das aufstrebende Deutsche Reich keinen Ausgleich ihrer widerstreitenden Interessen. Die Zeiten, in denen enge familiäre Beziehungen der Herrscherfamilien die Interessenkonflikte zwischen komplexen industrialisierten Massengesellschaften überbrücken konnten, waren an der Schwelle zum 20. Jahrhundert endgültig vorbei. Daran hätte vermutlich auch Friedrich III. nichts geändert

Im Gegensatz zu seinem Vater, der, durch und durch König von Preußen, die deutsche Kaiserkrone nur unwillig und auf Druck Bismarcks angenommen hatte, war Friedrich ein glühender Anhänger der Reichsidee. Seine Tagebuchaufzeichnungen zeichnen über weite Strecken anschaulich die Reichswerdung nach 1871 nach. Dabei wird deutlich, wie wenig Friedrich der überaus föderale Aufbau des zweiten Deutschen Kaiserreichs und die damit einhergehende relativ schwache Stellung des Kaisers unter den Bundesfürsten behagte.

Seine romantisch verklärte Reichsidee ging soweit, daß Friedrich sich ernsthaft mit dem Gedanken trug, als Kaiser den Namen Friedrich IV. zu tragen und damit nicht an die Numerierung der preußischen Könige, sondern an die der Kaiser des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation anzuknüpfen. Nur mit Mühe konnte Friedrich von seinen Vertrauten von diesem Schritt, der bei den Bundesfürsten auf massiven Widerstand gestoßen wäre, abgebracht werden.

Nur sehr eingeschränkt läßt sich aus den Tagebucheintragungen der starke Einfluß seiner Frau „Vicky“ auf Friedrich ablesen, die er liebevoll „Frauchen“ nennt. Victoria, für die sich nach dem Tod ihres Mannes der Name „Kaiserin Friedrich“ einbürgerte, zog sich nach dem Zerwürfnis mit ihrem Sohn Wilhelm auf das nach ihren Plänen erbaute Schloß Friedrichshof in Hessen zurück, wo sie 1901 starb. An vielen Stellen der Aufzeichnungen wird dagegen das angespannte Verhältnis sowohl Friedrichs als auch seiner Frau zum preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzler Otto von Bismarck deutlich, über dessen Divenhaftigkeit und ständigen Rücktrittsdrohungen Friedrich sich mokiert („Glaswassersturm“). Sehr wahrscheinlich hat Bismarck nur die kurze Regentschaft Friedrichs das Amt gerettet, aus dem er schließlich zwei Jahre später von Wilhelm II. entlassen wurde.

Friedrich III., der heute den wenigsten Deutschen bekannt sein dürfte,  war so etwas wie der preußische Prinz Charles des 19. Jahrhunderts. Wie der derzeitige englische Kronprinz wurde er über die Wartezeit im Vorzimmer des Thronsaals alt. Als sein von ihm verehrter Vater, Kaiser Wilhelm I., schließlich am 9. März 1888 mit fast 91 Jahren starb, war Friedrich bereits vom Tode gezeichnet und ohne Stimme. Seine wenigen politischen Entscheidungen, die er noch getroffen hat, lassen nur wenige Rückschlüsse darauf zu, welchen Kurs die Politik des Reiches unter einer längeren Regentschaft Kaiser Friedrichs III. tatsächlich genommen hätte. Und so wird die Legende von der durch den frühen Tod des 99-Tage-Kaisers verhinderten frühzeitigen „Liberalisierung“ Deutschlands nach britischem Vorbild, die den Lauf der Weltgeschichte angeblich grundlegend verändert hätte, sicherlich noch eine Weile weiterleben. Dauerhaft bleiben wird Friedrichs Platz als eine der tragischsten Herrschergestalten der preußischen Geschichte.

Winfried Baumgart (Hrsg.): Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866–1888, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, gebunden, 615 Seiten, 74 Euro

Fotos: Kronprinz Friedrich 1874 auf einem Gemälde von Heinrich von Angeli: Der preußische Prinz Charles des 19. Jahrhunderts; Friedrich und sein Sohn, der spätere Kaiser Wilhelm II., 1863 in schottischer Tracht zu Besuch bei der britischen Verwandtschaft auf Schloß Balmoral: England als bewundertes Vorbild

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