© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Fürst des Grauens
Bis zur Morgendämmerung: „Dracula“-Autor Bram Stoker starb vor hundert Jahren, sein Vampir lebt bis heute fort
Richard Stoltz

Am Anfang war die Krankheit. Geheimnisvoll und rätselhaft. Bis zum achten Lebensjahr konnte Abraham („Bram“) Stoker weder gehen noch stehen. Das Leiden, das sich damaliger Diagnostik entzog, verschwand so unerklärlich wie es kam. Aber, mochte der Körper des Jungen sich auch erholen – immerhin wurde Stoker ein Fußballstar der Universität von Dublin –, so blieb die Seele im Dunkel frühkindlichen Siechtums gefangen. Seine Phantasie kreiselte um Kreaturen, die an der Lebenskraft der Menschen saugen und bei Sonnenlicht nicht wie er selbst ans Bett, sondern – schlimmer noch – an einen Sarg gefesselt sind.

Stokers Trauma verdichtete sich zu einer finsteren Prosa, zu Geschichten wie der eines Studenten, den nächtliche Gestalten durch Pariser Vororte jagen („Burial of Rats“, 1878), oder über einen schrecklichen Riesen („The Invisible Giant“, 1881), den nur das Waisenmädchen Zaya erkennt und zur Umkehr treibt. Oder über die attraktive Lady Arabella, die ihre Opfer in ein Schloß lockt, sie aussaugt und ihre Körper an einen riesigen weißen Wurm verfüttert („The Lair of the White Worm“, 1911).

Inspiration für solch makabere Literatur erhielt der Autor nicht nur aus dem eigenen Leben, sondern auch aus der Literaturtradition Irlands, etwa der lesbischen Vampirnovelle „Carmilla“ (1873) von Joseph Sheridan Le Fanu. Dessen Motive finden sich noch in Stokers berühmtestem Roman, „Dracula“ (1897), wieder, namentlich in der latenten Erotik der Heldinnen Mina und Lucy, die vor allem Francis F. Coppola in seiner Verfilmung (1992) hervorhob.

Aber bevor der am 8. November 1847 bei Dublin geborene Stoker jenen Roman verfaßte, der ihn unsterblich (also auch zu einem Untoten) machen sollte, begann er als Journalist und Theaterkritiker. In Rivalität mit Oscar Wilde um das Herz von Florence Balcombe ging er als Sieger hervor: 1878 heirateten die beiden und zogen nach London; ein Sohn wurde geboren.

Zwar ist Stokers „Dracula“-Roman nachweislich durch den britischen Pulp-Roman „Varney the Vampire or the Feast of Blood“ (Varney der Vampir oder das Blutfest, 1847) beeinflußt, aber sein wirklicher Inspirator war eine der originellsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts: Hermann Vámbéry (1832–1913), ungarischer Orientalist und Turkologe, ein Freund und Unterstützer Theodor Herzls und des türkischen Sultans Abdülhamid II.

Auch Vámbéry litt als Kind unter Lähmungen. Er berichtete seinem Leidensgenossen Stoker über den rumänischen Fürsten Vlad III. Draculea (Dracula), der als „Vlad, der Pfähler“ verschrien war: ließ er seine Feinde doch reihenwiese aufspießen. Stoker verlieh diesem Fürsten des Grauens dämonische Züge, ließ ihn als Verdammten durch die Karpaten jagen: Graf Dracula, der Vampir war geboren.

Neben Mary W. Shelleys „Frankenstein“ (1818) ist er bis heute die wohl populärste Figur des Horror-Genres. Unzählige Fortsetzungen, Paraphrasen, Comic- und Filmadaptionen sind um ihn herum entstanden. Sein Schöpfer erlebte diesen Ruhm nicht mehr. Stoker starb in bescheidenen Verhältnissen am 20. April vor hundert Jahren in London im Alter von 64 Jahren an, wie es heißt, „Erschöpfung“. Spekulationen über Syphilis als Todesursache sind zumindest nicht zu belegen.

Neun Jahre später wurde „Dracula“ gleich zweimal verfilmt: in Ungarn als „Dracula Halála“ und in Deutschland unter dem Titel „Nosferatu“. Regisseur F. W. Murnau drehte seine Version jedoch ohne Tantiemenzahlung an Stokers Witwe. Die klagte und verlangte die Vernichtung aller Kopien. Beinahe wäre der Stummfilmklassiker dadurch für immer verlorengegangen.

Inzwischen hat man „Dracula“ bereits nach allen Regeln psychoanalytischer, historischer und soziologischer Kunst interpretiert. Ein neuer Deutungsansatz könnte bei Stokers Mitgliedschaft in der esoterischen Geheimloge „Golden Dawn“ zu finden sein. Sein Ordensbruder, der Magier Aleister Crowley, schrieb später in „Magick without Tears“ (1943), Bram Stokers „Dracula“ sei ein hervorragendes, gut recherchiertes Buch: „Er stellt die ‘Fakten’ und ihr übliches und magisches Umfeld richtig dar, absolut korrekt.“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen