© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Verse aus dem Exil
Gedichte: Ulrich Schachts „Bell Island im Eismeer“
Sebastian Hennig

Als der göttliche Augustus über den großen Ovid nur die Relegatio, die Verbannung ans Schwarze Meer verhängte, ersparte er ihm die Aquae et ignis interdictio (Untersagung der Gemeinschaft von Wasser und Feuer), die bedingungslose Ächtung im alten Rom. Fortan beweinte Ovid an der Schwarzmeerküste seine Kulturferne. Dabei kultivierte er den Schmerz um den Verlust der Heimat in den fünf Büchern der „Tristia“  (Klagen) und den „Epistulae ex Ponto“ (Briefe vom Schwarzen Meer).

Freiwillig hat der 1951 im Stollberger Frauengefängnis Hoheneck, wo seine Mutter aus politischen Gründen inhaftiert war, geborene Dichter Ulrich Schacht 1998 sein präventives Exil im südlichen Schweden angetreten. 2003 begann er die Publikation seiner heiteren Klage mit „Die Treppe ins Meer: Schweden-Gedichte“, einem kleinen Bändchen in der Passauer Edition Pongratz. Auf „Weißer Juli: sechsunddreißig Gedichte und ein Essay“ (2006), ähnlich in Umfang und Ausstattung, folgte unlängst der 130seitige Gedichtband „Bell Island im Eismeer“, der recht eigentlich Schachts „Epistulae ex Baltico“ versammelt und in fünf Abteilungen, wenn man so will, des Dichters fünf verdrießliche Bücher darstellt.

Schachts Verse durchzieht ein misanthropischer Grundton, der zu gleichen Teilen durch Erfahrungen wie Konditionierung  bestimmt sein mag. Nach sieben Jahren brutaler Freiheitsberaubung in der DDR und über zwanzig Jahren subtiler Einengung in bundesdeutschen Redaktionsstuben ist der Aufenthalt zwischen „…dunklen / Steinen die so / liegen wie erste Augen sie / gesehn“ von therapeutischer Unausweichlichkeit. Wer schon einmal wegen „staatsfeindlicher Hetze“ Jahre im Gefängnis zugebracht hat, der schaut sich weitere Radikalisierung lieber von außen an.

Aber er mag auch keine Verstellung mehr üben. Vor fünf Jahren mußten Dresdner Literaturfreunde und -sachverständige eine üble gesinnungsschnüfflerische Kampagne auf den Stadtschreiber Ulrich Schacht abwehren (JF 11/07). Den Dichter wird diese Stimmungsprobe von der alten Heimat in seiner Wohnungswahl noch einmal bestärkt haben. Zumal die Worte seiner neuen Umgebung ihn vertrauter ansprechen als Ovid das kehlige Idiom der Sarmaten: „Ja, Odin. Auch Baldur. Ein paar Straßen / tragen sie noch, ihre Namen aus jener Zeit hinter den / Zeiten,… Aber bei Edda kannst du, falls dir / das Haar wallt, vielleicht eine sagenhafte Frisur / schneiden lassen während Einar Erik und Halldór / schon längst wie wild mit Thordis telefonieren auch / Steinum callt von Straße zu Straße.“ Das wurde schon weiter nördlich beobachtet im Gedicht „Rejkjavík. Ein Jahrtausendende“.

Doch der Dichter sieht die nördlichen Gefilde aus Stein, Eis und Wasser als eine große Welt, die nicht im Norden Europas liegt, sondern für sich besteht. Sein Schreibtisch steht somit am südlichsten Ausläufer jener Gefilde, die von einer friedlichen, stillen Gewalt beherrscht sind und fern jeder kleinlich keifenden Rechthaberei liegen: „Das Wolken / Gebirge über der Bucht hat ihn versammelt weit entfernt / leuchten Blitze. Keiner, glaub ich, traf je eine Möwe“.

Das Gefühl der Unerreichbarkeit umhüllt einen in dieser Landschaft wie ein federleichter Mantel. Von sehr fern her klingt der Krieg hinein in die lichtvolle Erstarrung. Er ist nicht mehr der Vater aller Dinge, sondern, als Bürgerkrieg, eher der Sohn, der seinen Erzeuger entmannt. „Ein Gelehrter / ist das Geschoß von den Hügeln: Was / wir vergessen wollten, wie einen / dunklen Roman, das Alphabet unsrer / Scham bringt er uns wieder bei / feuerzüngig streng und unter dem / Blau eines wunderbar leuchtenden / Himmels in dem was emporsteigt Blei / schwer und Papier leicht zugleich“ heißt es in dem Gedicht „Die Bibliothek von Sarajevo“.

Warum aber müssen die ewigen Zombies der Propaganda für und wider nun auch als Trolle durch diesen Gedichtband streunen: Stalin tritt auf die Lichtung und schlägt Purzelbäume mit dem „Kind aus Braunau“ und in „Italien: Der Mann, der vom Balkon schrie, macht immer noch Urlaub.“ Die Verlockung ist zu groß, den staatlich geprüften Satan zum Anhaltspunkt für den eigenen Standort zu nehmen. Was nie wiederkehren darf, wird aber so für immer festgehalten. Sonst sind die Landschaften, die Inseln und das Meer dazwischen menschenleer und werden zum Anlaß einer poetologischen Entzifferungsarbeit, die beim Lesen der Dinge, ihnen Botschaft erst beilegt. Möwen und Schiffe ziehen ihre Bahnen durch Luft und Wasser, die Erde ist felsig. Gelegentlich erhebt sich ein Prediger-Ton, etwas Gebildet-Belehrendes, das den studierten Theologen erkennen läßt. Die Erde dieser Dichtung ist eine entlaubte, erstarrte, winterliche und herbstliche Welt, aus der die ungebrochene Sonne wie ein Bild des Lebens in einem schwarzen Ebenholzrahmen hervorbricht und alles verklärt.

Der Band erscheint in einem sehr qualitätsbewußten Kleinverlag, der ebenfalls in Südschweden ansässig ist. Die Übersetzerin Margit Lebert ediert in der Edition Rugerup vor allem die zeitgenössische anglophone Poesie von Rang, hat aber mit Ulrich Zieger und Thomas Kunst jene ungebrochenen Stimmen ihrer sprachlichen Heimat im Programm, die in Deutschland offenbar nur noch auf Umwegen ankommen können.

Ulrich Schacht: Bell Island im Eismeer. Edition Rugerup, Hörby 2011, kartoniert, 134 Seiten, 17,90 Euro

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