© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Die Schüler im Blick haben
Pädagogik: Der als unmodern verschriene Frontalunterricht erlebt eine Renaissance
Heino Bosselmann

Ein in die Bankreihen gebanntes Publikum, ehrfürchtig verfolgend, was ein auf erhöhtem Podest hinter einem Pult verschanzter „Lehrkörper“ quasi ex cathedra vorträgt: So ist das Bild, das abendländische Bildung – von Platons Akademie bis zu Heinrich Spoerls „Feuerzangenbowle“ – äußerlich bot und demgegenüber sich die Vorwürfe der Schulreformer erhoben, bevor der „handlungsorientierte“ Unterricht in der Bundesrepublik zum Schlüsselbegriff zeitgemäßen Lernens avancierte – mit dem Ergebnis, daß die Kompetenzentwicklung vor einem Desaster steht: Zwanzig Prozent der Fünfzehnjährigen gelten offiziell als Analphabeten, und die Pisa- und Iglu-Testereien attestieren in Mathematik sowie Naturwissenschaften gerade jenen Bundesländern substantielle Mängel, die strukturell wie methodisch vermeintlich besonders modernen und schülergerechten Unterricht praktizieren.

Eine Politik, die sich pragmatisch viel mehr Abiturienten wünscht und daher fast alle Schüler für abiturabel halten möchte, wundert sich andererseits, weshalb jene von Anfang an überforderten zwanzig Prozent schon die Bachelor-Ausbildung hinwerfen und es überhaupt viel zu wenige Absolventen im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) gibt, dadurch aber einen Fachkräftemangel, der signalisiert, daß zu viele zu wenig können.

Die Bilanz, daß jeder zweite Schüler auf das Gymnasium geht – eine Schulform, die ihren früheren Impetus längst verlor – oder anderswo ein „Abi-Zeugnis“ ausgedruckt bekommt, um besser „in Jobs gebracht zu werden“, wurde durch kulturelle Bestandsverluste und die Inflationierung einst erstrangiger Schulabschlüsse erkauft. Diese Regression ist symptomatisch für die ideelle Krise der in die Jahre gekommenen Bundesrepublik, die ihr einst hohes Bildungspotential kultuspolitischem Etikettenschwindel opfert.

Von der Illusion, Schüler müßten nur „Lernen lernen“

Die Achtundsechziger und deren sozialdemokratische Gefolgschaft wollten nicht nur „mehr Demokratie wagen“, sie setzten insgesamt auf eine Anthropologie, die gemäß tradierten linken Wunschvorstellungen per se jeden zum Talent erklärt und für kreativ, also für schöpferisch hält, bewußt absehend von Leistungsvermögen und Anstrengungsbereitschaft. Während das traditionelle Schulwesen, ausgehend von Johann Amos Comenius (1592–1670) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746 –1827), eine körperlich-geistige Entwicklung gerade durch den Frontalunterricht gewährleistet sah, galten die Schüler den sozialistischen Reformern in rousseauscher Weise als von Natur aus begabt, während lehrerzentrierter Unterricht als undemokratisches „Relikt aus Kaisers Zeiten“ bekämpft wurde. Unbewußt dürfte sogar der militärisch-harte Anklang von „frontal“ die negative Konnotation verstärkt haben.

Offene Gesellschaft, offene Unterrichtsformen! Die linken Kulturkämpfer verunglimpften nicht nur bewährte Lehre, sie wandten sich ebenso gegen Kanonisierung, Allgemeinbildung und systematische Sprachpflege, sie setzten gegen das Majorat des Inhaltlichen jenes der Methode oder des bloßen Machens, auch dies in der Illusion, Schüler müßten nicht in erster Linie etwas wissen, sondern „das Lernen lernen“, als wäre dies ohne Inhalte je möglich.

Selbststeuerung überfordert vor allem schwache Schüler

Im Ergebnis der Umbrüche wurden aber jene Schüler noch weiter abgehängt, die man gerade ans Spitzenfeld heranführen wollte, die nämlich, denen notwendige Vorkenntnisse fehlten. Konnte man sie gemäß der gängigen pädagogischen Platitüde „nicht dort abholen, wo sie standen“, waren sie nicht „mitzunehmen“, stellte man ihnen eben ungedeckte Schecks aus, machte also Komplimente in Bewertungen, mit denen man sie jedoch um so mehr im Stich ließ, weil das Leben selbst offenbarte, was ihnen an Kompetenzen fehlte.

Diese Schüler hätte ein gleichschrittiger Unterricht gefördert, während zum anderen die offene Methode die Begabteren nie so entwickelte, wie man sich das vorstellte. Allzu oft versandeten sie im betreuten Durchschnitt. Trotzdem wurden mittlerweile bald drei Generationen Referendare dazu angehalten, Frontalunterricht als reaktionäres Muster zu meiden und statt dessen auf handlungsorientiertes, entdeckendes Lernen zu setzen, gern in Gruppenarbeit, noch besser in völliger Freiarbeit.

Insofern aber gerade die Grundschule immer weniger elementare Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelte, zwanglos notenfrei unterrichtete und dem Spielerischen den Vorzug gab, wurde immer weniger in die Sekundarstufe mitgebracht, was überhaupt zu freierer Arbeit befähigt hätte. Im Gegenteil, eher mußten Oberstufenlehrer massiv nachbessern und ausputzen – selbstverständlich frontal, weil verspätet. Zudem: Mit welcher Methodik wären fremdsprachige Immigranten eher zu qualifizieren als lehrerzentriert?

Ohne Anleitung kann Neues nicht effektiv gelernt werden. Es bedarf der Orientierung an einem Modell, der Erklärung, der Verdeutlichung des Lösungsbeispiels und hoher Anschaulichkeit. Gute Lehrer sollten vormachen und mitmachen können, Muster liefern und zeigen, was möglich ist. Sie sind eher als Schüler in der Lage, die erforderliche Lernsteuerung zu organisieren, während verfrühtes eigenständiges Problemlösen weit weniger effektiv erfolgt. Selbststeuerung überfordert schwache Schüler, von denen mit Liberalisierung der Zugänge immer mehr zur Hochschulreife gebracht werden sollen. Mathematische Gesetze, die Rechtschreibung, naturwissenschaftliche Sachverhalte, geschichtliches und geographisches Allgemeinwissen und Vokabeln sind frontal besser zu vermitteln. Grundwissen, durch nervöse Downloads nicht ersetzbar, ist die Basis für ideenreiches Arbeiten und spätere Schöpferkraft, woran es derzeit fehlt.

Weil die Defizite unübersehbar sind, weil Grundschüler so schlecht rechnen wie noch nie, weil sie miserabel lesen und schreiben, weil es aber ebenso Gymnasiasten an der billigsten Allgemeinbildung fehlt, wird der Frontalunterricht nicht nur rehabilitiert, sondern erlebt eine Renaissance. Denn er läßt aufholen, sichert Inhalte, zeitigt am schnellsten Lerneffekte, sein Vorbereitungsaufwand ist technisch gering und mit dem tatsächlichen Verlauf am besten in Deckung zu bringen. Er erleichtert die Kontrolle der Schüler und stellt schon über den direkten Blickkontakt eine emotionale Beziehung zu den Klassen her, er realisiert verbindliche Lernziele und führt kenntnisreich in neue Gebiete ein.

Nur bedarf es dazu Voraussetzungen, die im Ergebnis der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte rar wurden. Zum einen der Fähigkeit des Lehrers sich durchzusetzen, seine Schüler einbinden und begeistern zu können, zum anderen braucht es deren Wachheit, Konzentration und Ausdauer. Beides aber, Lehrer, die Persönlichkeiten sind, statt sich auf Rollentäuschung festzulegen, die ihre Fächer lieben und von ihnen selber inspiriert sind, und Schüler, die sich belastbar darauf einstellen, waren lange kaum Thema.

Frontalunterricht ist keine Predigt, obwohl Lehrer, was seltener wird, für eindrucksvolle Vorträge und farbige Schilderungen ausgezeichnete Rhetoriker sein müssen. Er lebt vom geführten Unterrichtsgespräch, von Methodenwechseln und sehr wohl von selbständiger Schülertätigkeit mit sinnvoller Aufgabenstellung. Mit den neueren Formen und Methoden ist Lehrerzentrierung, solange ihr Priorität zukommt, problemloser zu verbinden als diese mit ihr, solange sie zu Dogmen der Universitätspädagogik erhoben werden.

Weil die verzettelt föderalistische Schulpolitik sich nicht auf verbindliche Orientierungen festlegen wird, sondern allenfalls Einigungen auf niedrigstem Nenner anstrebt, weil außerdem eine an der Sicherung kultureller Bestände arbeitende „Schulaufsicht“ gar nicht existiert, sollte der verantwortungsvolle Lehrer couragiert gegen das System auf eigene Maßstäbe setzen.

Investiert er dabei sich, wird er von selbst instruierend, also frontal wirken müssen.

 

Wer paukt, ist klar im Vorteil: die Lavy-Studie

Unter dem Titel „Was macht einen effektiven Lehrer aus“ („What Makes an Effective Teacher? Quasi-Experimental Evidence“, NBER Working Paper Nr. 16885, erschienen 2011) hat der israelische Wirtschaftswissenschaftler Victor Lavy im vergangenen Jahr eine Studie zu unterschiedlichen pädagogischen Methoden herausgegeben.

Darin kommt er zu dem Ergebnis, daß mit „traditionellen Unterrichtsformen“ die besten Lernergebnisse erzielt werden. Lavy befragte für seine Untersuchung Fünft- und Achtkläßler aus mehreren hundert Schulen, in welcher Form ihre Lehrer sie unterrichteten: Werde der Schwerpunkt vor allem auf das Abfragen von Wissen und Verständnis gelegt oder würden die Kinder in erster Linie dazu angeregt, sich kritisch mit dem Unterrichtsstoff auseinanderzusetzen und die Themen in Eigenregie zu erarbeiten?

Anschließend legte der Jerusalemer Hochschullehrer den Schülern einen standardisierten Test in den Fächern Mathematik, Hebräisch, Englisch sowie in Naturwissenschaften vor. Die besten Testergebnisse wurden dort erzielt, wo der Schwerpunkt auf Stoffvermittlung und Auswendiglernen gelegt wurde. Ähnlich positiv habe sich auch die Förderung des analytischen Denkens ausgewirkt. Dagegen habe die Untersuchung nicht belegen können, daß die Schüler besonders gut abschneiden, wenn im Unterricht der Fokus auf selbständiges Lernen gelegt worden sei.

Gerade schwächere Schüler, so Lavy, profitierten deutlich mehr von dem, was er als „Kern traditionellen Unterrichtens“ bezeichnet. Die modernen Methoden seien vor allem für Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten ungeeignet.

Lavy plädiert am Schluß seiner Untersuchung für eine „gesunde“ Mischung traditioneller und „moderner“ Methoden.

Die Studie ist im Internet abrufbar: www.bitly.com

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