© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/12 13. April 2012

Mit Menschen, ohne Menschen
Deutschland, deine Demographie: Eine Reportage aus fünf Städten mit ganz unterschiedlicher Bevölkerungssituation
Henning Hoffgaard / Hinrich Rohbohm

Zwei Kindergesichter schauen aus dem Fenster eines schmucken Fachwerkhauses in der Straße „An der Abzucht“. Sie lächeln, aber bewegen sich nicht. Es sind Puppen, keine jungen Menschen, die da auf dem Fenstersims posieren. Der Landkreis Goslar hat ein Problem mit jungen Menschen. Ihm kommt schlicht der Nachwuchs abhanden. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung werden in Goslar und dem Nachbarlandkreis Osterode im Jahr 2030 satte 37,9 Prozent weniger unter 18jährige leben als heute. Die beiden Kommunen in der südniedersächsischen Harzregion weisen damit einen bundesweiten Negativ-rekord auf.

„Bei uns sieht es noch ganz gut aus, aber schon jetzt müssen hier im Umkreis Kindergruppen geschlossen werden“, sagt eine Erzieherin des Kindergartens „Kunterbunt“ in der Worthstraße, mitten in der Innenstadt Goslars. Nicht zuletzt deshalb würden einige Tagesstätten durch das Angebot von Krippenplätzen versuchen, eine Schließung abzuwenden. Es sind die Vorboten eines zu erwartenden Kindermangels. Die Goslarer Innenstadt ist in gutem Zustand, ihre historischen Häuser renoviert. Doch beim Blick in die Fenster stechen die zahlreichen „Dieses Objekt könnte Ihnen gehören“-Schilder ins Auge. Immobilienbüros bieten Einfamilienhäuser bereits für 29.000 Euro zum Verkauf. Intakte Spielplätze sind zu sehen, doch keine Kinder, die ihn nutzen. „Hier gibt es keine Arbeit, keine Industrie“, erzählen Geschäftsleute in der Fußgängerzone. Die Tage, als noch der Bergbau florierte, sind lange gezählt. 1980 lebten in Goslar noch 52.000 Einwohner. Heute sind es nur noch 40.000. Daß man im Einzelhandel dennoch über die Runden komme, liege am Tourismus. „Wir haben seit Jahren steigende Übernachtungszahlen“, weiß man im Touristikbüro zu berichten. 

Der Tourismus ist der letzte Strohhalm, an den sich auch die Stadtverwaltung von Schwedt klammert. Die 34.000 Eiwohner zählende Stadt an der deutsch-polnischen Grenze im brandenburgischen Landkreis Uckermark droht wie Goslar und Osterode die Vergreisung. Eingeschlagene Scheiben, rostige Türen, verwaiste Läden. Die Uckermark-Passagen, im Internet noch als „Einkaufs-center mitten im Viertel“ gepriesen, sind längst äußerster Stadtrand. Statt Kunden flanieren hier höchstens noch ein paar Füchse und verwilderte Katzen.  „Nicht mehr lange und die Wildschweine werden aus dem nahe gelegenen Wald kommen“, glaubt ein Anwohner. Kaum eine Stadt ist vom Bevölkerungsrückgang und der Überalterung so stark betroffen wie Schwedt. Direkt an der Oder gelegen, hat das ehemalige DDR-Raffineriezentrum seit der Wiedervereinigung fast 25 Prozent seiner Einwohner verloren. Das schlechte Wetter läßt die zahlreichen Plattenbauten noch ein wenig trister wirken, als sie sowieso schon sind. Auf der Hauptstraße schiebt eine Gruppe älterer Damen ihre Rollatoren in Richtung Altstadt. Ein verwittertes Schild erinnert an die längst geschlossene Kaufhalle. Viele andere Läden stehen leer. Nur ein Geschäft floriert: Bestattungen. Vor allem die Jungen sind vor hoher Arbeitslosigkeit und fehlenden Perspektiven geflohen. 

Jugendliche sind im Stadtbild kaum noch auszumachen. Kein Wunder: 159  der 15jährigen stehen 739 Leuten gegenüber, die 69 Jahre alt sind. Bis 2030 wird die Bevölkerung laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung noch einmal um 28 Prozent zurückgehen. „Gesundschrumpfen“ nennt Kerstin Adamczak, die selbst einen Sohn hat und in einem Hotel arbeitet, diesen Prozeß. Aus Schwedt werde nun wieder eine „kleine Kleinstadt“. Die Spuren dieser Entwicklung sind allgegenwärtig. Ganze Stadtteile  wurden „zurückgebaut“, wie es im Behördendeutsch heißt. Gebäude wurden abgerissen und die entstandenen Freiflächen renaturiert. Erst gingen die Bewohner, dann fielen die Plattenbauten. Und mit ihnen auch die meisten Geschäfte. Dennoch kam der Abriß, den Bürgermeister Jürgen Polzehl (SPD) in Interviews gerne als „dynamischen Prozeß“ bezeichnet, bei vielen Bürgern gut an. „Gott sei Dank sind die Plattenbauten weg“,  sagt auch Kerstin Adamczak. Jetzt sei die Stadt ein wenig grüner. Sie selbst will bleiben. Zumindest, solange sie noch Arbeit hat.

130 Kilometer nördlich sitzt Demmins stellvertretender Bürgermeister Kurt Kunze in einem kleinen Büro im originalgetreu wiederaufgebauten historischen Rathaus. Er kennt die Probleme. Seit 22 Jahren arbeitet er jetzt schon für die Stadt. Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsrückgang und Leerstand  gibt es auch hier. Vor einigen Jahren waren viele Journalisten vor Ort. Danach hieß es: Wollte man einen Film über die Hoffnungslosigkeit drehen, müsse man nur nach Demmin gehen. Trotzdem hat Kunze nie aufgegeben. „Positiv denken“, sagt er immer wieder und zählt die Erfolge auf. Der Wohnungsleerstand liege mit elf Prozent trotz schrumpfender Bevölkerung nur knapp über dem Landesdurchschnitt, die Arbeitslosenquote ist von 31 auf 18 Prozent gesunken, und auch die Zahl der Schulen konnte erhalten werden. Dabei profitiert Demmin, dessen Einwohnerzahl seit 1988 von 17.000 auf zuletzt knapp 12.000 gesunken ist, sogar von der Tatsache, daß den umliegenden Dörfern noch wesentlich mehr Menschen den Rücken gekehrt haben. Statt zum Tante-Emma-Laden und Landarzt, müssen gerade die übriggebliebenen älteren Dorfbewohner aus dem Umland nun nach Demmin in einen der vier Supermärkte oder ins örtliche Kranken- und Ärztehaus.

Einige der kleinen Gemeinden im Umland von Demmin haben allein im Jahr 2010 bis zu 18 Prozent der Einwohner verloren. Dennoch sind die Folgen des Bevölkerungsrückgangs auch in Demmin an vielen Orten zu sehen. Viele  Läden stehen zum Teil seit Jahren leer.„In den vergangenen Jahren ist es für alle schwerer geworden“,  sagt die Inhaberin der örtlichen Buchhandlung. Ohne ihre Stammkundschaft hätte sie längst zumachen müssen. Zumindest gehe es ihr jetzt besser als zu DDR-Zeiten. Da war sie „Volksbuchhändlerin“ und durfte die meisten Titel gar nicht verkaufen. Die Stadtverantwortlichen fordert sie auf, alles zu tun, um den Weggang der Jugend zu verhindern: „Damit wir nicht völlig zum Altersheim werden.“

Kunze sind solche Töne nicht fremd. Nachdenklich sitzt er in seinem Bürostuhl. Ein bißchen weniger „Betriebsblindheit“ wünscht er sich manchmal von den Einwohnern. Touristen und Gäste würden die positive Entwicklung der Stadt viel stärker wahrnehmen. Trotz seines Optimismus gibt es immer wieder Momente, in denen man ihm anmerkt, wie hilflos er sich manchmal fühlt. Dann lehnt er sich leicht zurück, überlegt kurz und sagt: „Viel können wir nicht beeinflussen.“ Mit den Einwohnern verschwand auch der finanzielle  Handlungsspielraum der Stadt. Er hofft, daß die Bevölkerungszahl bis 2030 nicht unter 10.000 fällt. Irgendwann werde sich die Alterspyramide schon wieder umkehren, gibt er sich weiter optimistisch. Aber: „Ob ich das noch erlebe, ist eine andere Frage.“ 

Zumindest in einem Punkt ist Demmin und sein Umland schon jetzt Spitze. Nirgendwo in Deutschland liegt die durchschnittliche Kinderzahl mit 1,7 pro Frau so hoch wie in Demmin. Ein Wert, mit dem die Region sogar den demographischen Muster-Landkreis Cloppenburg hinter sich gelassen hat. Gemeinsam mit dem Landkreis Vechta ist die tief katholisch geprägte Region im oldenburgischen Münsterland aufgrund ihrer hohen Geburtenraten bundesweit bekannt. „Wir haben hier ein äußerst intaktes Vereinsleben“, nennt ein Cloppenburger Familienvater einen Grund für den Geburtenüberschuß. Hinzu kämen „ländliche Werte“, man kümmere sich um seine Mitmenschen. Kinderreichen Familien stehe zudem günstiger Wohnraum zur Verfügung, Mieten und Grundstücke seien auch für den kleinen Mann bezahlbar und werden von den Kommunen in ausreichendem Maße angeboten. 

„Aber machen wir uns nichts vor, die hohen Geburtenzahlen liegen vor allem daran, daß bei uns sehr viele Aussiedler leben“, meint die Inhaberin einer Cloppenburger Bäckerei. Sie merke das an ihren Kunden, unter denen sich zahlreiche Rußlanddeutsche befinden. Jeder fünfte Einwohner im Landkreis stammt aus einer Aussiedlerfamilie. In der wenige Kilometer von Cloppenburg entfernten, 7.600 Einwohner zählenden Gemeinde Molbergen ist sogar jeder zweite Bürger Rußlanddeutscher. „Gorbatschow-Village“ nennt man hier scherzhaft ihre in der Nachwendezeit entstandenen Siedlungen, in denen sie jedoch zumeist unter sich bleiben. Ihr Zuzug ist in der heimischen Wirtschaft willkommen. Vor allem in der Landwirtschaft und in den Schlachtereien sind sie gerngesehene Arbeitskräfte, verrichten harte Tätigkeiten, die sich Einheimische oftmals nicht mehr zumuten wollen.

Das Leben in der Großfamilie ist bei ihnen noch stark ausgeprägt, vor allem bei den kinderreichen evangelischen Pfingstgemeinden, denen ein nicht unerheblicher Teil der Aussiedler angehört. Sie schicken ihren Nachwuchs nicht in den Kindergarten, meiden auch das Vereinsleben. Von ihren Mitgliedern erwarten sie einen Verzicht auf Empfängnisverhütung und die regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten. „Wir Alteingesessenen führen unser Leben und die Aussiedler ihres, da gibt es wenig Überschneidungen“, meint dazu die 27 Jahre alte Tochter eines Landwirts trocken. 

Vom Kindersegen beglückt ist auch der Landkreis Erding in Oberbayern. Auf dem Marktplatz vergeht kaum eine Minute, ohne daß Eltern mit Kinderwagen vorbeigefahren kommen. Eine Arbeitslosenquote von gerade einmal 2,8 Prozent, sanierte Grundschulen, zahlreiche Grünanlagen und die Nähe zur Metropole München machen die Kommune attraktiv. Mit der Erdinger Weißbier-Brauerei sowie dem Flughafen München im ebenfalls boomenden Landkreis Freising gibt es potente Arbeitgeber in der Region, die junge qualifizierte Leute anziehen. „Außerdem sind wir von dem guten Spielplatzangebot begeistert“, schwärmt eine erst vor kurzem zugezogene Mutter. Der Bertelsmann-Studie zufolge wird die Bevölkerung hier bis 2030 um zwölf Prozent zunehmen. Damit zählt Erding zu den wenigen Landkreisen in Deutschland, die ein Wachstum an Einwohnern verzeichnen werden.

Doch selbst kinderreichen Gegenden wie Cloppenburg und Erding haben ihre Schattenseiten. Die Geburtenrate ist auch hier längst rückläufig. Es sind zumeist Zuzüge, die für positive Einwohnerzahlen sorgen. Und die Zuzüge erfolgen in der Regel dort, wo junge Familien Arbeitsplätze vorfinden.

Foto: Orte der Gegensätze: Während im nordostbrandenburgischen Schwedt (links) Wegzüge und Überalterung zu Ladenschließungen führen, zieht das oberbayrische Erding (rechts) mit Arbeitsplätzen junge Familien an

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