© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

CD: Pop
Youtube sei Dank
Georg Ginster

In grauen Vorzeiten war die Entdeckung neuer Trends oder Bands auf dem Musikmarkt dem Zufall überlassen oder mühselig. Man mußte als Konsument Leute kennen, die einem Empfehlungen gaben. Oder man hatte nächtelang auszugehen, um irgendwo etwas Interessantes aufzuschnappen. Oder man war dazu verdammt, den Hinweisen in Musikzeitschriften Glauben zu schenken. Hörproben in Plattenläden gerieten zur Geduldsprobe, da man sich anzustellen hatte. Heute hingegen ist eine umfassende Marktsichtung stationär und mobil jederzeit möglich. Auf Plattformen wie Youtube, aber auch bei Verkäufern wie Amazon steht es jedem frei, auf die Suche zu gehen und sich kostenlos einen Eindruck davon zu verschaffen, ob eine bestimmte Musik den eigenen Geschmack trifft oder nicht.

Aber auch für die Anbieter ist vieles leichter geworden. Musiker können ohne großen Aufwand ihr Popularitätspotential und damit ihren Marktwert via Internet testen. Einen zeitgemäßen Karriereeinstieg durch schlagartig auf Massenakzeptanz stoßende Testsongs auf Youtube hat soeben Lana Del Rey absolviert. Gänzlich aus dem Nichts kam sie zwar nicht, hatte die Amerikanerin doch bereits vor zwei Jahren unter ihrem Geburtsnamen Lizzy Grant eine CD veröffentlicht. Da die authentische Masche aber nicht verfing, mußte sie als Kunstfigur neu erfunden werden. Diese speist sich aus höchst unterschiedlichen und wohlkomponierten Quellen.

In Habitus und Stil wird mit Lana Del Rey ein die US-Popkultur der 1950er und 1960er Jahre bevölkernder unterkühlt-gefährlicher Frauentypus à la Angie Dickinson, Lauren Bacall oder Nancy Sinatra neu inszeniert, damit dies auch niemandem entgeht, sind ihr zeitgenössische Accessoires und Requisiten mit Signalfunktion beigegeben.

In musikalischer Hinsicht sind die Archivbestände, deren man sich auf ihrer Debüt-CD „Born To Die“ (Universal) bedient, jüngeren Datums und im dicht gewebten Klangzitatteppich kaum auseinanderzuhalten. Ein bißchen Pop-Ballade, ein paar Soul- und Dubstep-Anklänge, hier und da eine geglättete und beschleunigte Trip-Hop-Anleihe, mal minimalistisch orchestriert, mal überbordend mit Streicherpathos an der Schmerzgrenze. Trotz des ästhetischen Zeitsprungs erscheint Lana Del Rey zeitgemäß: Die Retro-Strategie geht auf, weil sie eben nicht nostalgisch ist. Das Publikum von heute kann aufgrund des zeitlichen Abstands gar keine eigenen Erinnerungen an das haben, was als Zitat bemüht wird. Es genießt vielmehr die Freiheit, das als authentisch zu empfinden, was ihm gefällt.

Eher unbedarft ist hingegen das Duo First Aid Kit durch das Youtube-Tor zur Welt ins Scheinwerferlicht geschliddert – nunmehr bereits mit der zweiten, „The Lion’s Roar“ (Wichita/Play It Again Sam) getauften CD. Die beiden schwedischen Schwestern knapp über der Volljährigkeitsschwelle haben sich auf melodiösen Folk verlegt, allerdings nicht auf heimatlichen, sondern amerikanischen. Wo sie von der Country-Gemeinde wahrgenommen werden, regt sich Verblüffung: So viel Frische hatte man dem Nashville-Sound nicht mehr zugetraut. First Aid Kit vollbringt nicht nur Stimmwunder, sondern ist auf dem Weg von der Paraphrasierung von Vorbildern hin zur Unverwechselbarkeit bereits weit vorangekommen.

Lana Del Rey, Born To Die Universal 2012 www.universal-music.de

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