© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

Evangelisches Elend
Ostern I: Der Protestantismus ist personell und geistlich ausgezehrt
Gernot Facius

Sie haben alles, wonach katholische Reformgruppen sich sehnen: verheiratete Geistliche, von den Kanzeln predigen Frauen, Bischöfe und Bischöfinnen werden auf Synoden demokratisch gewählt. Und dennoch verlassen immer mehr Menschen die evangelischen Landeskirchen. 2010, neuere Daten liegen noch nicht vor, waren es 145.250. Allein von 1990, dem Jahr der deutschen Wiedervereinigung, bis 2010 haben mehr als vier Millionen Protestanten ihrer Kirche den Rücken gekehrt.

Wenn, so der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, die Kirche in der Krise stecke, dann weniger durch Anfeindung von außen, sondern vielmehr durch den „Teufel der Teilnahmslosigkeit“ in den eigenen Reihen. Dafür mag es unterschiedliche Gründe geben, beileibe nicht nur den demographischen Wandel, auf den sich die Amtsträger gern berufen. Spiritualität boomt meist außerhalb der Kirche. Schneider fragt deshalb zu Recht: Wird die christliche Botschaft verständlich genug verkündet? Und glaubwürdig, muß man hinzufügen. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß zwischen der Selbstdarstellung der evangelischen Kirche und den Erwartungen, welche die große Mehrheit ihrer Mitglieder an sie richten, eine tiefe Kluft existiert. Gerade in Situationen, in denen man von der Predigt besonders viel erwarte, werde häufig nur noch eine religiöse Formelsprache reproduziert. Selbst Beerdigungsansprachen seien oft unpersönlich, lieblos vorbereitet.

Die Protestanten, sagt der Münchener evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf, klagten hier gegen die Institution Kirche ein, was einst die besondere religiöse Leistungskraft des Protestantismus ausgemacht habe: seine Wortkultur. Wer sich die Mühe macht, die Predigten von Landesbischöfen zu hohen Festtagen zu durchforsten, stößt auf – durchaus sympathische – Statements zum Klimawandel, zur Finanzkrise, zum Arbeitsmarkt, zum Krieg in Afghanistan. Manches ist freilich trivialisiert, auf Moral reduziert, könnte auch von Politikern stammen. Regelmäßig zu Ostern wird die Lehre vom Sühnetod Jesu Christi „hinterfragt“. Graf nennt ein weiteres Beispiel für die Tendenz zur Infantilisierung der christlichen Frohbotschaft: Sprach man auf den Kanzeln einst vom allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, der zugleich Richter und Retter, gnädiger Vater und zorniger Rächer sei, so wird Gott nun primär als allumfassende Liebe bezeugt – als „Kuschelgott, an dem wer auch immer sich fröhlich erwärmen kann“.

Bibel und Bekenntnisschriften rücken in den Hintergrund, zeitgeistige Themen bestimmen die innerkirchlichen Debatten – und polarisieren. Zum Beispiel die Homosexuellen-Frage. Evangelische Pfarrhäuser werden für gleichgeschlechtliche Pfarrerpaare geöffnet. Die EKD-Synode hat dies durch ein neues Pfarrerdienstgesetz möglich gemacht. Sie hat einstimmig entschieden, selbst der als konservativ firmierende ehemalige bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein, Vizepräses der Synode, hat dafür votiert, obwohl er die Kritik an dieser Entscheidung versteht. Beckstein hält sich daran, daß die Bibel, wie er sagt, praktizierte Homosexualität „ohne Ausnahme“ verurteile. Aber er würdige mit seinem Ja einen „Kompromiß nach schwierigen Verhandlungen“, der unterschiedliche Wege in den 22 Landeskirchen ermögliche. Und er zeigt sich „versöhnt“, daß seine Kirche sich „klar zum Leitbild von Ehe und Familie“ bekenne und auch homosexuelle Paare „diesem Leitbild verpflichtet sind“. Was Beckstein nicht sagt: Die EKD hat sich vom Begriff von Ehe als Partnerschaft von Mann und Frau entfernt.

Die bayerische Landessynode hat sich am 22. März mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, daß schwule oder lesbische Geistliche im Pfarrhaus zusammenleben dürfen. Voraussetzung ist, daß die Partner eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen sind und daß Kirchenvorstand, Dekan, Regionalbischof und Landeskirchenrat dem Wunsch einmütig zustimmen. Dabei müsse gewährleistet sein, daß das „Leitbild“ von Ehe und Familie nicht beeinträchtigt werde. Für die Vertreter pietistischer Gemeinschaften war die Wortspielerei mit dem „Leitbild“ logischerweise zuwenig. Zumal da ein synodaler Ausschuß festgestellt hatte, daß „im Alten und Neuen Testament keinerlei positive Aussagen zur Homosexualität gemacht werden“. Aber das half nicht, In der sächsischen Landeskirche steht das Thema Ende April auf der Tagesordnung der Synode. Auch hier versuchen konservative Gruppen zu erreichen, daß an der eindeutigen ethischen Orientierung der Heiligen Schrift zur Frage der gleichgeschlechtlichen Lebensweise festgehalten wird. Wahrscheinlich haben sie ebensowenig Erfolg wie die bayerischen Kritiker.

Wie auch immer die Debatten ausgehen, mit der zunehmenden Akzeptanz homosexueller Partnerschaften hat der landeskirchliche Protestantismus Schritte getan, die ihn von den ökumenischen Partnern, Katholiken und Orthodoxe, entfernen.

Die nicht nur geistliche Auszehrung der Kirchen der Reformation geht weiter. Das Wort „Krise“ gehört längst zum kirchlichen Standardvokabular. Wie die katholische Kirche ist auch die EKD vom Traditionsabbruch erfaßt. Der sonntägliche Gottesdienstbesuch ist auf eine Quote von maximal vier Prozent gesunken. Allein in der Zeit von 1990 bis 2005 wurden bundesweit 41 evangelische Kirchen und Kapellen „umgewidmet“, 130 Kirchen nicht mehr genutzt, 26 an Dritte vermietet, 97 verkauft und 46 abgerissen. Ernüchternd ist das Ergebnis einer Mitglieder-Hochrechnung: Bis zum Jahr 2030 wird die EKD rund ein Drittel ihrer Gläubigen verlieren, also knapp acht Millionen von derzeit rund 24 Millionen, vornehmlich durch den demographischen Wandel.

Eine neue massive Austrittsbewegung, wie man sie Ende des 20. Jahrhunderts erlebte, ist da noch nicht eingerechnet. Weil die verbleibende Zahl der Mitglieder dann älter sein wird als heute, mithin viele keine Kirchensteuer mehr zahlen, sinken die Einnahmen: auf die Hälfte von heute (vier Milliarden Euro). Die Folgen sind schon zu erahnen: Immer mehr historisch gewachsene Pfarreien gehen in – weitgehend anonymen –Großgemeinden auf. Wie die katholische, so gleicht die evangelische Kirche einer „Großbaustelle“.

2006 hatte die EKD unter ihrem damaligen schneidigen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber der „Kirche der Freiheit“ einen ehrgeizigen Umbau bis zum Jahr 2030 verordnet. Zuwenig Theologie, zuviel Management-Floskeln, monierten die Kritiker. Zu den „kirchlichen Kernangeboten“ hieß es: „Der durchschnittliche Gottesdienstbesuch am Sonntag sollte von derzeit vier Prozent auf zehn Prozent aller Kirchenmitglieder gesteigert werden. Die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche liegt derzeit bei etwa 31,3 Prozent der Gesamtbevölkerung; auch im Jahr 2030 sollte es mindestens dieser Bevölkerungsteil sein, der zur evangelischen Kirche gehört.“ Wachsen gegen den Trend: ein anspruchsvolles Ziel, das utopisch anmutet.

Es wird nicht ohne Besinnung auf die Quellen des Glaubens zu erreichen sein. Und da sieht es momentan nicht gut aus.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen