© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

„Deutschland ist ein Land der Angst“
Der nigerianische Priester Obiora Ike hat Europa bereist. In seiner Heimat feiern die Christen trotz Unterdrückung und Verfolgung Ostern mit Jubel, in Deutschland dagegen hat er eine Gesellschaft im Verfall vorgefunden – und darüber ein Buch geschrieben.
Moritz Schwarz

Monsignore Ike, wo sind die Christen glücklicher, in Deutschland oder Nigeria?

Ike: Ganz klar in Nigeria.

Sie kennen Deutschland gut, haben hier studiert und gelebt, in Ihrem Buch schreiben Sie, Sie lieben Deutschland.

Ike: Das stimmt, natürlich soll ein Priester aber die Menschen an sich lieben. Doch wenn man wie ich in Köln lebte und dort am Abend an der Theke sein Kölsch trank, dann lernte man die Deutschen kennen und so ganz konkret lieben. Heute betrachte ich mich nicht nur als Afrikaner, sondern auch als „bekennenden Rheinländer“. Und irgendwie ist das Rheinland ja auch das Afrika Deutschlands, denn es gibt dort diesen typischen Frohsinn, diese Gelassenheit: „Et kütt wie et kütt.“ – „Es kommt wie es kommt.“ Allerdings, daß die typisch afrikanische Tugend des Klüngelns in Köln erfunden worden sein soll, das halte ich für ein Gerücht des Kölner Lokal-Anzeigers. Und dennoch muß ich Ihnen sagen, wenn ich heute durch Deutschland reise, dann bin ich beklommen von der negativen Stimmung im Land.

Inwiefern?

Ike: So viel Mißmut, so viel Trübsinn, so viele Klagen über Unwichtiges. In Deutschland wird gejammert, daß es mir in den Ohren klingelt. Im Sommer beschweren sich die Deutschen über die Hitze, im Winter über den Schnee. Das Deutschland der sechziger und siebziger Jahre, das ich damals kennengelernt habe, finde ich heute nicht mehr.

Wie war dieses Deutschland?

Ike: Es war das Deutschland nach Konrad Adenauer, das Deutschland der katholischen Soziallehre, der sozialen Marktwirtschaft, der Ideen Alfred Müller-Armacks. Damals gab es noch viel mehr Gemeinschaftssinn. Damals war noch die Rede von Verantwortung, die Frage lautete: „Was können wir für unsere Gesellschaft tun?“ Heute dagegen heißt die Frage in Deutschland: „Was tut die Gesellschaft für mich?“ Und die Kirchen – sie waren viel voller, heute sind die deutschen Kirchen leer. Die Besucher waren oft junge Leute, heute sind es mehr alte Menschen. Deshalb werden bei Ihnen heute Kirchen geschlossen und verkauft. In Afrika dagegen verkaufen wir keine Kirchen, im Gegenteil, wir bauen ständig neue.

Nun begehen die Christen weltweit Ostern. Sie sagen: „In Deutschland wird die Messe gelesen, in Afrika dagegen gefeiert.“

Ike: Ja, die Christen in Nigeria etwa jubeln um ihren Glauben, sie feiern ihn! Bei uns sucht keiner einen Vorwand, um nicht zum Gottesdienst zu gehen. Im Gegenteil, alle gehen hin, die ganze Familie, und sie nehmen sogar ihre Ziegen mit. Und wenn einer mal nicht kommt, machen sich die anderen Sorgen: „Ist er krank?“ Und sie gehen hin und fragen nach ihm. Die Christen in Nigeria klagen auch nicht über Kleinigkeiten, statt dessen freuen sie sich über jedes noch so kleine Geschenk. Und wenn etwa die Terroristen von Boko Haram eine Kirche niederbrennen, dann kommt die ganze Gemeinde und baut sie wieder auf.

Seit Jahren terrorisiert die Boko-Haram-Bewegung, die „nigerianischen Taliban“, den Norden des Landes. Ihr Ziel ist die flächendeckende Einführung der Scharia und die Vertreibung der Christen.

Ike: Seit dem Jahr 2000 hat der radikale Fundamentalismus gewalttätiger Muslime in Nigeria etwa 20.000 Menschen das Leben gekostet, darunter 15.000 Christen. Zehntausende Christen mußten zudem aus ihren Dörfern fliehen und leben heute als Flüchtlinge. Boko Haram, das bedeutet übersetzt: „westliche Bücher“ oder „westliche Bildung ist Sünde“. Sie kommen zum Beispiel nachts in die Häuser von Christen und metzeln diese mit Macheten nieder. Oder sie werfen während des Gottesdienstes Bomben in unsere Kirchen.

Am Weihnachtstag 2011 geriet Nigeria in die Top-Schlagzeilen der Weltpresse, als zum christlichen Hochfest gleich eine ganze Serie Bombenanschläge auf Kirchen erfolgte und Dutzende Christen getötet wurden.

Ike: Diese Anschläge gibt es ständig. Nicht nur auf Kirchen – in Damaturu etwa hat Boko Haram ein Priesterseminar angegriffen und die Seminaristen ermordet. In Kano haben sie eine Kirche nicht nur niedergebrannt, sondern sogar Stein für Stein bis auf den Boden abgetragen.

Auch Sie selbst sind schon Ziel von Mordanschlägen geworden.

Ike: Zum Beispiel überraschten mich zwei Männer zu Hause: Mit entsicherten Waffen zielten sie in mein Gesicht und drohten, ich würde in wenigen Minuten tot sein. Nur mit Gottes Hilfe gelang es mir zu entkommen: Ich bat sie wenigstens noch einmal beten zu dürfen, das wurde gewährt. Dann wandte ich mich um und forderte sie auf, nun zu tun, wofür sie bezahlt worden seien. Ich würde dann in wenigen Augenblicken vor meinem Schöpfer stehen, und ich würde als erstes für sie um Vergebung bitten. Zu meiner Überraschung senkten sie ihre Waffen: Sie sähen jetzt, daß ich ein guter Mensch sei und einen guten Menschen wollten sie nicht töten. Aber es ist nicht nur der Terrorismus. Es ist auch die Diskriminierung der Christen durch viele normale Muslime. In manchen Gegenden etwa bekommt man keine Arbeit, wenn man mit Vornamen Franz oder Anton heißt. Heißt man aber Mohammed oder Ibrahim, dann hat man den Job.

In zwölf der 36 Bundesstaaten Nigerias gilt inzwischen die Scharia.

Ike: Und das, obwohl in einigen dieser Bundesländer Christen die Mehrheit sind. Der moslemische Staatspräsident Ibrahim Babangida hat Nigeria gar eigenmächtig als einen islamischen Staat bei der Organisation islamischer Staaten OIC registrieren lassen – obwohl siebzig Millionen, also fast die Hälfte, der gut 150 Millionen Nigerianer Christen sind!

Seit 2010 ist allerdings Goodluck Jonathan Präsident, ein Christ.

Ike: Das stimmt, aber er ist nicht zugleich Gouverneur in den 36 Bundesstaaten. Dort wo Christen diskriminiert werden, geht die Schikanierung und Benachteiligung von den Landes- und den Lokalbehörden aus. So sind unsere Gefängnisse voll mit Christen, die nichts getan haben. Unter falschen Anschuldigungen sitzen sie nur deshalb im Gefängnis, weil sie Christen sind. Und die Gefängnisse in Nigeria sind nicht wie in Deutschland, sondern die Hölle auf Erden. Oder zum Beispiel bekommen wir in manchen Bundesländern für eine neue Kirche einfach keine Baugenehmigung – für Bordelle nicht und für Kirchen nicht: Bordelle und Kirchen auf einer Stufe! Nun, wir bauen dann zwar eben eine „Schule“ und nutzen sie auch als Kirche, aber dann wird uns das Gebäude zerstört. Überhaupt, sobald es nur die kleinste Unstimmigkeit im Lande gibt, brennen Kirchen.

Hat Boko Haram mit ihrem Terror gegen die Christen die Unterstützung der muslimischen Bevölkerung im Land?

Ike: Teils, teils. Es ist schrecklich, aber in manchen Landesregierungen und Behörden – sogar bei Polizei und Armee –, hat Boko Haram in der Tat Sympathisanten und Unterstützer. Präsident Jonathan klagt, diese gäbe es sogar bis hinein in seine Regierung! Andererseits sind sehr viele Muslime auch gute Menschen. Und Boko Haram tötet keineswegs nur Christen, mitunter sind auch Muslime Opfer, ja auch Moscheen wurden von Boko Haram schon angezündet, etwa weil dort Terrorismus im Namen des Islam verurteilt wurde. Ich glaube, letztlich steht nicht die Religion hinter Boko Haram, tatsächlich ist Boko Haram eine Mischung aus Politik, Armut, mangelnder Bildung und Kriminalität.

Dennoch warnen Sie, der Westen unterschätze den Islam.

Ike: Ja, der Westen lebt in den Wolken, er weiß nicht, wie es am Boden ist und vielleicht will er es auch gar nicht wissen. So verdrängen die Menschen im Westen auch das Schicksal ihrer christlichen Brüder, die in anderen Ländern leiden.

Moment, wir haben zig Millionen Muslime in Europa.

Ike: Das sind Immigranten. Wenn Sie wissen wollen, wie es sich lebt, wenn der Islam verwurzelt ist, dann kommen sie nach Nigeria! Denn wir leben hier am Boden, wir erleben, daß der Islam keine wirkliche Toleranz kennt. Der einzelne Muslim mag friedlich sein, aber der Islam in seiner Hauptströmung will die Islamisierung. Europa verkennt auch den Arabischen Frühling: Das ganze islamische Nordafrika – Ägypten, Libyen, Tunesien – führt islamische Staatsordnungen ein. Es ist eine antichristliche, antiwestliche Bewegung! Was Europa nicht versteht: Dies ist kein Arabischer Frühling zur Verwestlichung, sondern zur Arabisierung und Islamisierung.

Sie schildern die Christen Nigerias trotz Tod, Terror und Unterdrückung als fröhlich, während Sie das Christentum im sicheren Deutschland als bedrückt erleben. Das klingt absurd.

Ike: Wenn sie das Lachen der Christen Nigerias hören, dann können Sie nicht glauben, daß diese Leute überhaupt irgendwelche Probleme haben! Natürlich gibt es auch in Europa Christen, die glücklich, fröhlich und glaubensstark sind, aber das sind einzelne und keine Bewegung. Meist erlebe ich statt dessen dort ein Christentum, das zwar gesegnet ist mit Wohlstand und Sicherheit, das alles hat, Geld, Anerkennung, Kirchen, die keiner anzündet und von dem kein Martyrium verlangt wird – aber es fehlt das Lachen.

Sie haben die Christen Europas aufgerufen, endlich „aufzuwachen“.

Ike: Es ist mir manchmal in der Tat, als ob die Christen Europas in Schlaf gefallen wären. Sie sollten daraus erwachen und ihre Gesichter der Sonne zuwenden! Deshalb habe ich mein Buch über meine Erfahrungen in Deutschland auch so genannt: „Wende dein Gesicht der Sonne zu“. So wie die Christen Nigerias, die selbst angesichts der Gefahren und Bedrückungen zuversichtlich sind und keine Furcht haben.

Deutschland dagegen, so stellen Sie fest, sei heute „ein Land der Angst“.

Ike: Und das ist kein Wunder. Lesen Sie die Bibel. Jesus sagt: „Ich bin gekommen, fürchtet euch nicht.“ Das ist die Botschaft Gottes an den Menschen: „Ich gebe dir meine Hand, halte sie fest und du wirst keine Angst mehr haben.“ Aber je mehr sich die Menschen von Gott, von der Kirche, vom Sakralen fernhalten, um so mehr fürchten sie das Leben. In Europa, nicht nur in Deutschland, habe ich gesehen, wie die Menschen sich unabhängig machen: von Gott, von der Familie, von der Gesellschaft. So daß schließlich vereinzelte Persönlichkeiten entstehen und die Menschen einsam werden. Im Europa von heute höre ich auch, daß Männer Männer heiraten und Frauen Frauen. Es scheint, daß die Europäer irgendwie beschlossen haben, ihre Gesellschaften umzubringen. Denn wenn Männer Männer heiraten oder wenn den Frauen Selbstverwirklichung wichtiger ist als eine Familie, wie sollen dann noch Kinder geboren werden? In Europa herrscht heute eine Kultur des Todes.

Inwiefern?

Ike: Jesus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Was aber, wenn wir uns von Jesus entfernen? Die Natur duldet kein Vakuum, sie füllt die Leere. Dann kommt das Ich, dann kommt das Geld, die Selbstverwirklichung, der Feminismus. Dann gibt es Platz für den Teufel – seine Kultur aber ist die Kultur des „Nein“: Nein zum Leben, nein zum Glauben, nein zur Kirche, nein zu Kindern, nein zu Tugenden, nein zur Jungfräulichkeit, nein zur Zivilisation – das ist eine Kultur des Todes. Jesus aber ist die Kultur des Lebens: Ja zum Leben, ja zu Kindern, ja zur Familie, ja zur Gemeinschaft, ja zur Verantwortung der Menschen füreinander.

Wieso ist Europa so geworden?

Ike: Weil die Gesellschaften Europas sich auf die falschen Werte stützen. Sehen Sie, wenn etwa jemand sündigt, aber bereut, dann verzeiht ihm Gott. Das ist die Sprache Jesu: Menschen immer wieder eine neue Chance zu geben! In der schnellebigen Welt der Europäer dagegen, mit ihrem Hunger nach immer mehr und immer dem Neuesten gilt: Einmal in Ungnade gefallen: Aus und vorbei! Und das ist ein Problem der modernen Medien. Denn ihr Gesetz ist: Immer der neueste Trend. Immer die neueste Nachricht. Immer der letzte Schrei. Was dem nicht mehr genügt, wird fallengelassen. Das ist eine Welt ohne Gnade und ohne Heimat, eine Welt der Unsicherheit und der Angst, weil Versagen das Ausscheiden bedeutet. Wenn eine Gesellschaft die Gesetze der Medien zu ihrer Grundlage macht, dann ist sie verloren. Viele in Nigeria wollen nun auch so werden, schnell, reich und materiell, wie der Westen. Aber wir kämpfen dafür, unsere Gesellschaft davor zu bewahren. 2010 wurden allein in einer einzigen nigerianischen Provinz 700 junge Männer zu Priestern geweiht. Im gleichen Jahr waren es in Europa nur 200 – in ganz Europa! Sie sehen, wo die Zukunft des Christentums liegt, wenn sich Europa nicht endlich selbst rettet: Dann wird Afrika die neue Heimat Jesu Christi sein.

 

Prof. Dr. Obiora Ike, gilt als „unerschrockener Kämpfer gegen die Geißel des Terrorismus“ (Deutschlandfunk). Der Deutschlandkenner, Menschenrechtler und katholische Theologe ist als ein Repräsentant Afrikas Gesprächspartner zahlreicher Prominenter wie Papst Benedikt XVI. (Bild links), Kofi Annan, Hamid Karzai, Gerhard Schröder, Horst Köhler oder der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag. Außerdem leitet der Generalvikar des Bistums Enugu im westafrikanischen Nigeria, Jahrgang 1956, das „Katholische Institut für Entwicklung, Gerechtigkeit und Frieden“. Zusammen mit dem katholischen Publizisten Martin Lohmann veröffentlichte er 2007 bei Pattloch sein Buch „Wende dein Gesicht der Sonne zu“.

www.obioraike.com

Foto: Turmspitzen des Kölner Doms, Himmel über Deutschland: „Wenn ich heute durch Deutschland reise, dann bin ich beklommen von der Stimmung im Land“

 

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