© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Unsterbliche Jagdgelüste
Über das Waidwesen, Naturerfahrungen und den Kreislauf des Lebens – Bekenntnisse zu Beginn des Jagdjahres
Karl Feldmeyer

Wer heutzutage in Deutschland auf die Jagd geht, weiß: Er muß sich rechtfertigen. Er spürt geradezu das Befremden vieler seiner Mitmenschen und daß sie zumindest den Versuch der Selbstrechtfertigung für mein frevelhaftes Tun erwarten. Wenn mir jemand mit diesem Anspruch entgegentritt, bin ich zu fast allem bereit – nur nicht dazu, um Verständnis für meine jagdliche Passion zu werben, so als sei sie sittlich verwerflich.

Eher provoziert mein Gegenüber damit das Gegenteil, so daß ich die Versuchung spüre, mit gleicher Münze zurückzuzahlen und mich über seine Haltung zu mokieren. Aber lassen wir das. Jagd ist viel zu schön, als daß man sich darüber streiten sollte.

Vor allem nicht mit Leuten, die selbst nie zur Jagd gegangen sind und folglich gar nicht wissen können, wovon sie reden. Für sie reduziert sich die Jagd auf das Schießen und Töten von Tieren. Daran gibt es nichts herumzureden: Zweck des Jagens ist es, Wild zu erlegen – und dies zu tun ist nicht nur  legitim, es ist notwendig. Ein Zerrbild aber entsteht, wenn man das Erlegen des Wildes isoliert sieht.

Wer sich der Jagd so nähert, wird sie und die Jäger nicht verstehen. Gewiß: Es gibt Jäger, für die Schießen und Beutemachen das einzige Motiv sind. Mein Verhältnis zur Jagd ist anderer Art. Auf die Jagd gehen – oder richtiger gesagt – fahren, ist vor allem eines: Heraustreten aus der Welt unserer Alltagsgeschäfte und ihrer genormten Umwelt. Wer auf die Jagd geht, der begegnet der Natur nicht nur; er kehrt in sie zurück, ja er wird wieder ein Teil von ihr.

So wie der Bussard, der 60 Meter entfernt von mir aufgepflockt hat und auf seine Beute wartet, so sitze ich auf meinem Hochsitz und tue das gleiche. Da ist der Unterschied zwischen ihm und mir auf die Wahl der Waffen reduziert: bei ihm die Krallen, mit denen er seine Beute schlägt, bei mir mein Repetierer.

Am stärksten zieht es mich hinaus, wenn am 1. Mai die Böcke „aufgehen“, wie wir Jäger sagen, also geschossen werden dürfen. Dann lockt mich besonders mein Hochsitz am Grünberger Weg, der in den Waldrand hineingebaut ist und mir den Blick eröffnet, den ich gerne mit in die Ewigkeit nehmen würde: vor mir ein sanft im Wind wogendes Feld mit hellgrünem, kniehohem Roggen, das sich fast bis zum Horizont hinzieht; linker Hand der Kiefernwald, dessen Stämme rot in der Abendsonne leuchten und weiter entfernt die Alleebäume des Grünberger Wegs, durch dessen Sand sich höchst selten ein Auto quält.

Ringsum die heilende Stille der Mark Brandenburg. Sie durchdringt alles, und wenn man sie bewußt wahrnimmt, sozusagen in sie hineinhört, dann meint man sie brüllen zu hören, so intensiv ist sie still.

Warum steigen in mir während ich auf einen guten Bock warte, Gedichte und Lieder auf, die ich seit meiner Kindheit oder Schulzeit vergessen hatte? Wo waren sie in meinem Gehirn verborgen, was hat sie hervorgelockt und weshalb steigt Rührung in mir auf?

Links am Waldrand tritt ein Bock aus. Mit dem Glas beobachte ich ihn. Gemächlich zieht er äsend auf mich zu. Die herabgezogenen Dachrosen bestätigen den Gesamteindruck: ein alter Bock. Dann peitscht der Schuß, den er nicht mehr hört.

Kurze Zeit später liege ich auf Leben und Tod elf Wochen im Krankenhaus. Ich werde wohl nicht mehr gehen können, überwindet sich mein Arzt mir zu eröffnen. Da drehe ich mich zur Wand und schalte um. Der Grünberger Weg, das Roggenfeld und mein Bock stehen vor mir und helfen mir zu überleben. All das gehört zusammen, eben zur Jagd.

Foto: Hochsitz im Abendsonnenschein: Wer auf die Jagd geht, der begegnet der Natur nicht nur; er kehrt in sie zurück

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