© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Vom Wohlfahrtsstaat zur Transferunion
Süßes Gift
Klaus Hornung

Man wird gut daran tun, den Satz Angela Merkels „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ als taktisches Alarmsignal zu verstehen, um ihre Truppe zusammenzuhalten. Die Prophezeiung, das Scheitern werde neue Kriege in Europa auslösen, kann man getrost niedriger hängen.

Der einstige britische Schatzkanzler in der Regierung Thatcher, Nigel Lawson, hat sie kürzlich zu Recht „hysterischen Unsinn“ (JF 6/12) genannt. Realistisch ist allerdings die Bewertung der aktuellen Staatsschuldenkrise als die gefährlichste Krise der Europäischen Union seit ihrer Gründung. Anstatt vor ihr mit markigen Sprüchen die Augen zu verschließen, ist es besser, ihre Ursachen und Auswirkungen zu analysieren.

Eine erste kritische Bilanz wohlfahrtsstaatlicher Überdehnung zog der renommierte Finanzwissenschaftler Günter Schmölders in seinem Buch „Der Wohlfahrtsstaat am Ende – Adam Riese schlägt zurück“ (1983). Sie lautete: „Überall im Westen hat die Nachgiebigkeit der Politiker, die Übermacht der Gewerkschaften und Lobbys und die fahrlässig hochgezüchtete Anspruchshaltung der Wohlstandsempfänger zu einer verderblichen Aufweichung der Haushaltsmoral, zum hemmungslosen Geldausgeben und zu einer Gewöhnung an alljährliche Haushaltsdefizite und wuchernde Staatsüberschuldung geführt, die heute, beim Zusammenfall von Konjunktur- und Strukturkrise, verheerende Wirkungen auslöst.“

Am Beginn von Schmölders’ Kritik standen die expandierenden Staatsausgaben in der Bundesrepublik während der sozialliberalen Bundesregierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt, die sich zwischen 1971 und 1981 von 296,5 auf 750,9 Milliarden D-Mark mehr als verdoppelten. Die öffentlichen Schulden  stiegen rasant an – von 88,3 auf 495,7 Milliarden D-Mark.

Es war das Jahrzehnt einer populären innenpolitischen Reformpolitik mit den Parolen der Modernisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik, der sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit, die mit einem überproportionalen Anstieg der Sozialausgaben und einer entsprechenden permissiven Haushaltspolitik finanziert wurden. Begründet wurde das mit der Ankurbelung der lahmenden Wirtschaft nach dem Rezept des „deficit spending“ des britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes. Tatsächlich wurden sie zunehmend zur Deckung der wachsenden Haushaltslücken und für die nötigen Zinszahlungen verwendet.

Schmölders bezog natürlich auch die damalige internationale Entwicklung ein. Überall in den westlichen Industriestaaten, in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Frankreich, stieg die Staatsquote beträchtlich an und streifte bald schon die 50-Prozent-Grenze des Bruttosozialprodukts. Die öffentlichen Ausgaben dienten vor allem sozialstaatlichen und konsumtiven Zwecken, die Investitionen sanken, und die Arbeitslosigkeit stieg erstmals fühlbar an.

Schmölders sprach von einer „leichtfertigen Verschuldungspolitik der Wohlfahrtsstaaten“, die Wachstumsstagnation und Arbeitslosigkeit nicht verhinderte. Er faßte seine Untersuchung in dem Alarmruf vom „weltweiten Fiasko des Wohlfahrtsstaats“ zusammen und vergaß nicht, auf die sich daraus ergebenden politischen und gesellschaftlichen  Krisenerscheinungen der Demokratie, die Erosion des Bürgervertrauens und wachsende Staatsverdrossenheit aufmerksam zu machen.

Damals, vor 30 Jahren, bestanden noch realistische Chancen für eine wirksame Korrektur überzogener Wohlfahrtspolitik. Ein Jahr vor dem Erscheinen des Schmölders-Buches war in Bonn die sozialliberale Regierung von der bürgerlichen Koalition Kohl-Genscher abgelöst worden. Kohls Regierungserklärung im Oktober 1982 formulierte das zentrale Problem: „Viel zu lange haben zu viele auf Kosten anderer gelebt, der Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und – wir sollten es offen sagen – wir alle auf Kosten der heranwachsenden Generation.“

Das war ein klares Signal für die Notwendigkeit einer Wende. Eine erste Steuerreform des Finanzministers Gerhard Stoltenberg zeitigte zwischen 1983 und 1986 erste Resultate, etwa mit Blick auf eine zeitweilige Stabilisierung des Renten- und des Gesundheitssystems. Doch ihre Wirkungen verpufften rasch. Der Parteienwettbewerb in den folgenden Landtagswahlen hinderte die notwendige Nachhaltigkeit und führte auf die bequemen Pfade der „Gefälligkeitsdemokratie“ zurück.

Viele Staaten der Europäischen Gemeinschaft versäumten es in der Wende- und Umbruchzeit nach 1989, ihre bankrotten Haushalte zu sanieren. Die Folge war, daß sie gegenüber den neuen Herausforderungen ohne Mitwirkung der Finanzmärkte wenig hätten ausrichten können. Nur durch entsprechende Kreditausweitungen waren die neuen Aufgaben zu bewältigen. Und dabei mußten die Staaten und die Finanzmärkte mehr als bisher zusammenwirken. Man hat diese völlig neuartige Herrschaftsform „Konzerndemokratie“ genannt, um anzudeuten, daß den demokratischen Institutionen nur noch formal eine legitimierende Rolle zugedacht wurde.

Die Politik hat deshalb in den 1990er Jahren zunehmend Gesetze erlassen und Maßnahmen getroffen, um bisherige Restriktionen und Begrenzungen des Wirkens der Finanzmächte abzubauen und ihre Spielräume zu erweitern. Es war kein Zufall, daß zu dieser Zeit auch die Verhandlungen über die Errichtung einer europäischen Währungsunion in Gang kamen, die 1992 in den Maastricht-Vertrag einmündeten.

In Brüssel und den Hauptstädten Europas war der Wille deutlich, die Währungsgemeinschaft zur politischen Stärkung der Union zu nutzen und die EU zur zweitstärksten Wirtschafts- und Währungsmacht nach den Vereinigten Staaten auszubauen. Das „deutsche“ Problem – die wirtschaftliche Stärke des wiedervereinigten Deutschlands – schien durch seine Einbindung in die Währungsunion am elegantesten gelöst.

Der Maastricht-Vertrag wurde so zum zweiten großen Experimentierfeld für die wachsende Einflußnahme der Finanzmächte auf die Politik. Da konnten dann die Argumente der Wissenschaft und ihre Warnungen vor dem Experiment, überaus heterogene Steuer-, Finanz- und Wirtschaftssysteme der Mitgliedstaaten mit sehr unterschiedlicher Produktionskraft unter einem Währungsdach zu vereinigen und davon gar eine Stärkung des Ganzen zu erwarten, nur stören, auch wenn sie sich bald und auf die Dauer als die besseren erwiesen.

Tatsächlich war die EU von Anfang an auf Vereinheitlichung und Zentralisierung programmiert. Schon vor der Währungsunion hatte sie das weitgespannte Netz ihrer Fördertöpfe angelegt, ihre Struktur-, Kohäsions- und Sozialfonds aufgebaut, deren Namen schon ihre Stoßrichtung verdeutlichten.

Die Währungsunion brauchte dieses System nur weiter auszubauen und zu perfektionieren, wozu dann die Einheitswährung, die Europäische Zentralbank und die niedrigen Zinssätze ihrer Kredite verführerische Möglichkeiten boten. Mit anderen Worten: Der Euro weitete den schon lange in Europa beschrittenen wohlfahrtsstaatlichen Weg zu einer supranationalen Sozial- und Transfergemeinschaft Zug um Zug aus, eine Politik, die absehbar kein gutes Ende nehmen konnte.

Der griechische Wirtschaftsminister Michalis Chrysochoidis hat in der FAZ ein einsichtvolles Fazit der Schuldenkatastrophe seines Landes gezogen. Die überzogenen Subventionen und die Fördertopfwirtschaft der EU-Kommission haben sich, so der Mann, als „süßes Gift“ erwiesen und letztlich Griechenland nicht gefördert, sondern seine Produktionsbasis zerstört: Was für industrielles Wachstum gedacht war, floß in unzählige Kanäle des Konsums, der Massenverwöhnung, etwa bei den Renten, bis hin zur schlichten öffentlichen und privaten Korruption. Der Fall Griechenland wurde zum warnenden Exempel dafür, wie leicht „gutgemeinte“ soziale Wohltaten zu echten Katastrophen entarten können.

 Selbst der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen (SPD) hat in diesem Zusammenhang jüngst ungeschminkt ein offenkundiges Politikversagen eingeräumt. Vor allem hat die Brüsseler Kommission von Beginn an nichts unternommen, um die Verwendung der Milliardensubventionen in den Empfängerländern zureichend zu kontrollieren oder bei Mißständen sogleich zu stoppen. Experten war schon bei der Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone bewußt, daß dessen vormoderner Staats- und Verwaltungsapparat weder zu sauberer Abrechnung von Fördermitteln in der Lage noch willens war.

Neben den Politikern und den Finanzjongleuren sind auch die Bürger- und Wählerschaften der europäischen Mitgliedstaaten von ihrer Mitverantwortung nicht freizusprechen. Schon seit Jahrzehnten haben sie als Wohlstandsempfänger die Süßigkeiten fortdauernder Sozialzuwächse als normal betrachtet und gern angenommen.

Kaum einer wollte zum Spielverderber werden und auf das bequeme „Tischleindeckdich“ einer expansiven Subventionswirtschaft verzichten, das letztlich auch die öffentliche und die individuelle Moral zersetzen mußte. Und schließlich trägt auch die Welt der Medien in ihrer Mehrheit ihr gerütteltes Maß der Verantwortung, indem sie seit Jahr und Tag in den Ruf nach „sozialer Gerechtigkeit“ als dem Nonplusultra der Modernität einstimmt.

Das Ergebnis ist, daß die Wirkungen der Krise inzwischen über die ökonomische Sphäre von Soll und Haben hinausgehen und die Stabilität der politischen Ordnung gefährden. Der tschechische Staatspräsident und Euro-Kritiker Vaclav Klaus spricht davon, daß die finanzwirtschaftliche Krise zu einem Paradigmenwechsel des Denkens und Verhaltens der Menschen unserer Zeit führt, jenes Paradigmas, das vom Erbe Europas in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden geprägt wurde. Das Scheitern des modernen Wohlfahrtsstaates und seiner supranationalen Potenzierung in der Einheitswährung könnte in Europa eine historische Zäsur markieren.

Dem deutschen Soziologen und Philosophen Hans Freyer verdanken wir eine ähnliche Tiefensicht, die er in seinem Werk „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ (1955) vorgelegt hat. Er hat hier vor den beiden fundamentalen „Trends“ dieser Epoche gewarnt, der „Machbarkeit der Sachen“ und der „Vollendbarkeit der Geschichte“.

Freyers Urteil hat sich in dem halben Jahrhundert seitdem bestätigt, in den grenzenlosen Machbarkeitserwartungen der wissenschaftlich-technischen Revolution ebenso wie in den globalen Ordnungsversuchen unserer Tage. Diese gehen mit dem Aufkommen postdemokratischer oligarchischer Herrschaftsformen Hand in Hand – mitsamt ihren unverkennbar totalitären Beimischungen der Kontrolle des Denkens und der Gesinnungen der Menschen.

Die Einsichten von Klaus und Freyer sind Voraussetzungen, um die Krisenszenarien der Gegenwart zu überwinden. Die Hybris der Utopien grenzenloser Machbarkeit und eines historisch-politischen Messianismus gilt es zu durchschauen und abzutragen. Erst dann gewinnen wir Raum zur Renaissance der besten Kräfte Europas, seines Erbes der Vernunft und Freiheit für die Enkel des Perikles.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung, Jahrgang 1927, lehrte bis 1992 Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Doppelkrise des Westens („Selbstherrliche Eliten“,  JF 43/11).

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