© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Auf der Suche nach einer höheren Wahrheit
Heilige Narren in der Tradition Dostojewskis und Tolstois: Zur Erinnerung an den sowjetischen Filmregisseur Andrej Tarkowskij
Martin Lichtmesz

Bei keinem anderen Regisseur floß so viel Wasser wie in den Filmen Andrej Tarkowskijs. Immer wieder ließ er Regen auf Wiesen, Wälder und Felder fallen, in sanften Schauern oder prasselnden Unwettern. Er ließ ihn durch die Dächer sickern und in die Behausungen der Menschen eindringen, die von verschlingenden Bächen und Flüssen umspült wurden. Er liebte das Spiel des Tangs im fließenden Wasser, die Pfützen auf der Erde, den Nebel, die Feuchtigkeit. Im Wasser spiegelte sich Heiligkeit und Geheimnis der Natur, vielleicht aber auch die Tiefe, Ungreifbarkeit und Beweglichkeit der menschlichen Seele. Es gebe in seinen Filmen keine Metaphern und keine Symbole, betonte Tarkowskij immer wieder. Alles sei, was es sei, ein Pferd ein Pferd, ein Hund ein Hund, ein Windstoß ein Windstoß, und doch war es immer mehr als das, verwies auf eine magische, göttliche Anwesenheit.

In Tarkowskijs erstem wie in seinem letzten Film taucht das Meer auf, aber auch, wie durch eine seltsame Schicksalsfügung, ein Kind unter einem Baum, hier in der ersten, dort in der letzten Szene. Damit schloß sich der Kreis eines Lebenswerks: Nur sieben Filme werde er in seinem kurzen Leben drehen, soll ihm der Dichter Boris Pasternak in einer spiritistischen Séance prophezeit haben – „aber gute!“

Und so kam es auch: Von seinem Debüt „Iwans Kindheit“ (1962) bis zu „Opfer“ (1986) schuf der am 4. April 1932 in Zentralrußland geborene, in den Fünfzigern an der Filmhochschule Moskau studierende Tarkowskij ein einzigartiges, immer wieder neu zu entdeckendes Werk. Es entstand zu einem erheblichen Teil unter äußersten Schwierigkeiten. Schon mit seinem zweiten Film „Andrej Rubljow“ (1966–69) machte sich der kompromißlose und tiefreligiöse Künstler bei den sowjetischen Autoritäten unbeliebt: Dem erst 34jährigen Tarkowskij war ein in jeder Hinsicht aufwendiges, dreistündiges Epos ermöglicht worden, dessen Tendenz der kommunistischen Doktrin scharf zuwiderlief.

Er zeigte das Leben des mittelalterlichen Ikonenmalers Rubljow als läuternde Passion, die durch Entbehrungen, Krieg und Grauen führt, an deren Ende jedoch die Tiefe und Vollendung des künstlerischen Ausdrucks steht. Kunst und Glaube waren für Tarkowskij untrennbar miteinander verbunden. „Das Ziel der Kunst besteht darin, den Menschen auf seinen Tod vorzubereiten, ihn in seinem tiefsten Inneren betroffen zu machen“, schrieb er später in seinem Buch „Die versiegelte Zeit“ (1984). „Begegnet der Mensch einem Meisterwerk, so beginnt er in sich jene Stimme zu vernehmen, die auch den Künstler inspirierte. Im Kontakt mit einem solchen Kunstwerk erfährt der Betrachter eine tiefe und reinigende Erschütterung.“

Tarkowskijs Helden sind oft heilige Narren in der Tradition Dostojewskis und Tolstois, auf der Suche nach Gott und einem Leben jenseits materieller Unwerte, wie etwa der „Stalker“ aus dem gleichnamigen Film (1979). Dieser führt einen Wissenschaftler und einen Schriftsteller in eine militärisch abgeriegelte, verbotene „Zone“, in der sich ein Zimmer befinden soll, das alle Wünsche erfüllt. Ein „Science-fiction“-Film, wie es ihn nicht nochmal gibt: beinah gänzlich in freier Natur gedreht, ohne technischen Schnickschnack, eingetaucht in eine postapokalyptische Atmosphäre, eine philosophische Dichtung in hypnotischen Bildern.

In Filmen wie „Der Spiegel“ (1975) und „Nostalghia“ (1983) gibt es keine Handlung im üblichen Sinn mehr: Träume, Erinnerungen und Visionen gehen nahtlos in die „Wirklichkeit“ über, verweisen auf höhere, innere Wahrheiten. „Nostalghia“, gedreht in Italien, besiegelte Tarkowskijs Schicksal: Die Studie über einen exilierten russischen Dichter, der am Verlust der Heimat zugrunde geht, nahm sein eigenes Los vorweg. Als klar wurde, daß die Sowjetunion fest entschlossen war, seine Filme künftig zu boykottieren, entschloß er sich, im Westen zu bleiben.

1985/86 enstand noch ein Meisterwerk, sein schwerster und düsterster, aber auf geheimnisvolle Weise hoffnungsvollster Film: „Opfer“ wurde mit einem Bergman-erfahrenen Team in schwedischer Sprache auf der Insel Gotland gedreht. In einer bleiernen Nacht nach Ausbruch eines vermutlich nuklearen Krieges bietet sich ein Mann Gott als Opfer dar, um das Unheil abzuwenden. Die finale Szene des Films, eine tour de force in acht ungeschnittenen Minuten, gehört zum Gewaltigsten, das jemals gedreht wurde. „Opfer“ wurde Tarkowskijs Vermächtnis: Die Dreharbeiten waren noch nicht abgeschlossen, als eine Krebserkrankung ausbrach. Er starb am 29. Dezember 1986 im Alter von 54 Jahren in Paris.

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