© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Wie die Mücke im Bernstein
Vom Schreibhandwerker zum Schriftsteller: Vor einhundert Jahren starb Karl May
Sebastian Hennig

Am 30. März ist es ein Jahrhundert her, daß sich im gerade zum Villenvorort Dresdens erwachsenen Radebeul das siebzigjährige Leben des Karl May vollendete. Von dieser Zeit hat er insgesamt ein Zehntel hinter Gittern verbracht und seither unausgesetzt schreibend geschuftet, immer den heißen Atem der Bestie im Nacken. „Er wollte immer reisen, aber er endete immer nur in den Gerichtspalästen des Deutschen Reiches“, heißt es in dem filmischen Epitaph des Hans-Jürgen Syberberg von 1974.

Zu ordnen vermochte Karl May sein Dasein nur in der Phantasie. Dort aber glückte es ihm total und folgenreich auch für andere. Die unbewußten Erinnerungen unserer frühen Jahre beruhen zu einem wesentlichen Teil auf Geräuschen, Düften und Geschmäckern. Und über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. Der Reise- und Abenteuerschriftsteller ist auf dem verdeckten Wege zum Alleinherrscher über die Empfindungen einer ganzen Generation von Heranwachsenden geworden. Ein Umfrage-Institut ermittelte bei 94,5 Prozent der Befragten Kenntnis und Lektüre des Werkes von Karl May. Aus der Karl-May-Gesellschaft, nebenbei eine der größten literarischen Gesellschaften Deutschlands, kam unlängst der Vorschlag, die May-Lesefähigkeit der Jugend an Gymnasien erziehen zu lassen.

Unbestritten bleibt dieses Autors Fähigkeit, fremde Erlebnisberichte durch fantastisch-literarisches Nachreisen auf dem geduldigen Papier und unter wahren Sturmfluten von Tinte zur gefühlten, fühlbaren Wirklichkeit umzugestalten. Ein erster Ausbruchsversuch des 1842 unter ärmlichsten Verhältnissen im westsächsischen Hohenstein-Ernstthal geborenen Webersohns endete im nahe gelegenen Zwickau. Später weilte Karl May dort für Jahre und unter der besonderen Fürsorge des Königreiches Sachsen. Nicht an der Tafel des ersten Hauses am Platze war er anzutreffen, sondern inhaftiert auf Schloß Osterstein.

Im Robert-Schumann-Haus läuft derzeit die Ausstellung „Karl May in Zwickau“. Karl May musizierte und komponierte ebenso routiniert, wie er auch zuweilen Verse schmiedete. Zum Tod Winnetous verfaßte er ein „Ave Maria“, das Notenmanuskript eines „Ständchen“ von seiner Hand wird neben anderen Handschriften und Erstdrucken ausgestellt.

Im Zwickauer Erziehungs- und Arbeitshaus trug neben der körperlichen Betätigung die gut bestückte Gefängnisbücherei ebenso ihren Teil zur Resozialisierung des Delinquenten bei wie eine Kunsttherapie und das musikalische Leben der Anstalt. May initiierte ein Bläserquartett und sang im Chor. Folgen des so humanen wie autoritären Strafvollzugs im Königreich Sachsen: In der gleichen Anstalt verfaßte August Bebel seine Schrift über den Bauernkrieg und beschäftigte sich mit der „mohammedanisch-arabischen Kulturperiode“. Der demokratische Strafvollzug der Weimarer Republik hat da fünfzig Jahre später ganz andere Literatur begünstigt.

Allerdings dauerte es noch einige Jahre, ehe hier aus der Chrysalide des Gauners ein fertiger Autor schlüpfte. Mays niedrige Unaufrichtigkeiten wuchsen sich zu großspurigen Phantastereien aus, kleine kriminelle Vorteilsnahmen zur phantastischen Selbstermächtigung im großen Stil. Von 1870 bis 1874 verbrachte er vier Jahre im Zuchthaus Waldheim. Nach seiner Entlassung fand er eine Anstellung in Dresden als Redakteur der Wochenblätter Der Beobachter an der Elbe und Frohe Stunden; in dieser Zeit veröffentlicht er auch eigene Erzählungen.

Dem Jugendschriftsteller Karl May wird 1886 der Weg gebahnt, als der katholische Verlag von Friedrich Pustet in Regensburg mit der Jugendzeitschrift Der gute Kamerad der protestantischen Gartenlaube Paroli bieten will. Mit den aktuellen Neuerscheinungen erhält der Jubilar nun von jenem christlichen Milieu etwas Anerkennungszins zurück, das an seinem publizistischen Zugpferd seinerzeit mit dem Honorar knauserte.

So erschien im Herder-Verlag bereits 2011 „Karl May – Ein biographisches Porträt“, locker, manchmal etwas zu forsch, von Thomas Kramer skizziert. Der sieht die Ursache des abnehmenden Interesses der Jugend in dem, was Karl Mays Siegeszug ursprünglich einleitete, seiner phantastisch-enzyklopädischen Phantasie-Authentizität in der Beschreibung von Landschaften und Bräuchen. Nicht dem welthaltigen Abenteurer, sondern dem abseitigen Mystiker gehöre die Zukunft. Weniger „Der Schatz im Silbersee“ wäre noch imstande, die Neugier zu wecken, sondern vielmehr „Im Reiche des silbernen Löwen“ liege heute das Sehnsuchtsziel der fantasy-süchtigen Pubertierenden. Entsprechend würde wohl keine Verfilmung, sondern eher ein Computerspiel um den Fürsten der Schatten, Ahriman Mirza, und den Meister Ustad dieser Wiederauferstehung den Weg ebnen.

Unbeeindruckt von solchen Vermutungen wurde vom Evangelischen Verlagshaus Brendow ein ganz herkömmliches Hörspiel inszeniert. „Old Cursing Dry“ bietet die werkgetreue Wiedergabe einer Abenteuererzählung als Wildwest-Predigt. Der alte fluchende, dürre Bösewicht verfällt letztlich seinem eigenen Meineid, halb ein Ödipus, halb guter Schächer, bekennt und anerkennt er seine Schuld und wird als Christenmensch begraben. Dieses Schicksal, in das er sich verrannte, bewahrt ihn vor dem Marterpfahl und ewiger Verdammnis.

Das Buch zur CD „Karl May – Der Winnetou-Autor und der christliche Glaube“ von Rainer Buck entspricht in Größe und Seitenzahl genau dem Werklein aus dem Herder-Verlag. In einer journalistischen Sprache, die von Wortspiel zu Wortspiel hangelt, hat der Kultur-Ressortleiter des Tagesspiegel, Rüdiger Schaper, sein Buch „Karl May – Untertan, Hochstapler, Übermensch“ (Siedler, 2011) verfaßt.

Jeder holt sich bei May, was er braucht, und was nicht paßt, wird weggelassen: Als 1981 „Winnetou I“ in einem Ost-Berliner Jugendverlag wieder erscheinen durfte, wurde gekürzt. Zu den Aussagen, die man keinesfalls den Erbauern einer frohen Zukunft zumuten wollte, gehörten Old Shatterhands Sätze: „Wir Deutschen sind eigentümliche Menschen. Unsere Herzen erkennen einander als verwandt, noch ehe wir es uns sagen, daß wir Angehörige eines Volkes sind – wenn es doch nur endlich einmal ein einiges Volk werden wollte!“

Über zwei Dutzend Menschen erschrieben sich an Karl May den Doktortitel, den er sich zunächst unrechtmäßig beigelegt hatte und erst für sein letztes Lebensjahrzehnt ehrenhalber führen durfte. Generationen von jugendlichen Ausreißern und Weltenfahrern wandelten auf Spuren, die er nur in der Phantasie ausgetreten hat. Jede Zeit hat ihren Karl May, einen Verfasser von belletristoidem Qualitätskitsch, der sich gut wegliest und nur auf Gutes zielt. Diese Autoren siedeln auf der einen oder anderen Seite der Zellwand, mit der die Literatur an die Kolportage grenzt. Karl May steckt, wie die Mücke im Bernstein, so völlig drin in dieser Membran, daß jede Spekulation darüber, an welcher der beiden Welten er mehr Anteil hat, müßig bleibt.

Zum Todestag am 30. März findet am Mausoleum auf dem Friedhof von Radebeul eine Feierstunde statt. Anschließend referieren die Fachwissenschaftler an der sächsischen Akademie der Künste in Dresden des Autors Blick auf die europäischen, amerikanischen und orientalischen Völker. Eine Stiftung, welche im Sinne Karl Mays notleidende Schriftsteller und Journalisten unterstützen sollte, erfüllt heute nur noch den Zweck der Reklame für das Werk ihres Gründers. Dort wo nach Kriegsende noch Stipendiaten wohnen konnten, wird nun ein prunkvoller neuer Eingangsbereich zum Karl-May-Museum entstehen. Was gestern ganz selbstverständlich einging, muß heute mit dem ganzen Brimborium moderner Ausstellungstechnik und -pädagogik propagiert werden.

Foto: Old Shatterhand (Lex Barker) mit seinem toten Blutsbruder Winnetou (Pierre Brice), 1965: Karl May als Alleinherrscher über Empfindungen; Karl May posiert als Old Shatterhand verkleidet (1896); Karl-May-Bibliothek im Museum Radebeul bei Dresden: Brimborium moderner Ausstellungstechnik (www.karl-may-museum.de)

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