© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Unter Vettern und Klienten
Die Europäische Union hat ein bürokratisches Geflecht ausgebildet, das der Selbstversorgung dient
Michael Paulwitz

Wer Europa sagt, will betrügen. Das darf man, in Abwandlung des auf die „Menschheit“ gemünzten Carl-Schmitt-Wortes, getrost unterstellen, wann immer auf der politischen Bühne einer den Mund auftut, um im Namen des Kontinents zu sprechen. Unter dem Mantel des Zauberworts „Europa“ lassen sich nationale Klientel- oder Gruppeninteressen trefflich verstecken. Der nicht mehr ganz so leuchtende, aber noch immer positiv besetzte Klang des europäischen Gedankens läßt die Bürger in den Mitgliedstaaten vieles schlucken, von der Planwirtschaft bis zur Währungs- und Vermögensenteignung, was sie sich ungetarnt wohl kaum so leicht unterjubeln ließen.

Ein Täuschungsmanöver stand schon an der Wiege des westeuropäischen Zusammenschlusses. Man sprach von europäischen Idealen und meinte eine elegantere Form der Ruhrbesetzung, der indirekten französischen Kontrolle über das schwerindustrielle Potential des besiegten und geteilten Deutschlands. Aus der nüchternen Distanz der britischen Inseln bezeichnete der Schotte Niall Ferguson einmal die EU-Geldumverteilungsmaschinerie als subtilere Neuauflage des Versailler Reparationssystems zu Lasten Deutschlands. In der Charakterisierung des Maastrichter Euro-Vertrags als „Versailles ohne Krieg“ steckt zweifellos ebenfalls mehr als ein Körnchen Wahrheit. Jeden Tag spiele in Brüssel das Argument eine Rolle, die Deutschen müßten angesichts ihrer Vergangenheit überhaupt froh sein, noch mitspielen und zahlen zu dürfen, sagte der frühere deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen während der Euro-Krise sinngemäß in einer Fernseh-Gesprächsrunde. Damit ist zweifellos die Interessen- und Motivlage eines Großteils der Akteure treffend beschrieben, einschließlich vieler deutscher, die das Prinzip Akzeptanz gegen Scheckbuch verinnerlicht haben und zur Marscherleichterung gern die Bürde nationaler Interessenpolitik an der Brüsseler Garderobe abgeben. Das Wesen der EU ist damit allerdings noch lange nicht erfaßt.

Im europäischen Staatenzusammenschluß, an dessen Anfang das Bestreben stand, die nationale Souveränität eines Teilnehmers – Deutschlands – durch dosierte Souveränitätsabgabe aller einzuschränken und zu kontrollieren, hat die Entmachtung der Nationalstaaten zugunsten eines bürokratischen, in alle Lebensbereiche hineinregierenden Zentralismus eine Eigendynamik angenommen, die der Kontrolle der formal als „Herren der Verträge“ geltenden nationalen Regierungen und Parlamente zunehmend entgleitet. Nicht erst seit sie mit quasi-staatlichen Attributen ausgestattet sind, agieren Kommissionspräsident und Kommission wie eigenständige Mächte, die – im Unterschied zu den Regierungen, die sie eingesetzt haben – keinem Volkssouverän und keiner Kontrolle durch republikanische Gewaltenteilung unterworfen sind.

Ihnen zur Seite ist, als Ergebnis unzähliger kleiner Souveränitätsverzichte, politischer Tauschgeschäfte oder Klientelversorgungsvorhaben, ein dichtes Geflecht von Kommissionen, Apparaten, Gremien, Finanzinstitutionen und Gerichtshöfen entstanden, das dem ehernen Gesetz jeder Bürokratie folgt: Einmal geschaffen, strebt sie danach, unaufhörlich zu wachsen und weitere Kompetenzen an sich zu ziehen.

Allen Kommissaren, Funktionären, Euro-Bankern und EU-Richtern ist gemeinsam, daß sie niemandem verpflichtet sind als den Politikern, Bürokraten und Lobbyisten, die ihre Posten schaffen, finanzieren und sie selbst darin einsetzen. Sie sind die Hefe einer europäischen politischen Klasse, der sich auch die nationalen Politiker zunehmend mehr verbunden fühlen als ihren eigenen Völkern und Wählern, so daß sie im Zweifelsfalle lieber gegen deren Interessen entscheiden und abstimmen, als vom Rest der Clique die Mütze des „antieuropäischen“ Buhmannes aufgesetzt zu bekommen.

Das macht das Regieren durchaus bequemer, und es locken auch einträgliche Posten und Karrierechancen jenseits der nationalen vier Wände, um die permanent gefeilscht wird wie auf einem orientalischen Basar. Alt-Bundespräsident Roman Herzog hat bereits darauf hingewiesen, daß der hohe Anteil von mehr als vier Fünftel europäischer Rechtsakte, die vom Bundestag nur noch durchgewinkt werden könnten, zu einem Gutteil selbstverschuldet sei: Politiker spielen gern „über Bande“, indem sie EU-Richtlinien anzetteln, um auf dem Umweg über Brüssel durchzusetzen, was im nationalen Parlament keine Mehrheit findet.

Musterbeispiel eines Politikers, dessen ganze Loyalität der europäischen politischen Klasse gilt, ist Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der bei Geldforderungen aus Südeuropa das größte Problem in der Darstellung gegenüber der heimischen Öffentlichkeit sieht. Nur folgerichtig, daß er auf den Vorsitz der Euro-Gruppe als Belohnung hoffen darf: Ein Hüter der Stabilität wird der Mann, der Schritt für Schritt jede Position gegen die Vergemeinschaftung der europäischen Staatsschulden geräumt hat, auch künftig nicht sein. Und mit der Schuldenunion kommt, was wohl von Anfang an Ziel des ökonomisch überflüssigen Euro-Projekts war: der EU-Superstaat, der die europäische politische Klasse endlich weitgehend von den letzten Rücksichten auf ihre lästigen Völker und Wähler befreit. Für den europäischen Gedanken wäre das eine Katastrophe. Denn aller Kritik an den Auswüchsen der EU zum Trotz: Ein europäischer Staatenbund, in dem Europas Nationalstaaten ihre Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik abstimmen, ist geopolitisch notwendig und vernünftig. Britische Euro-Skeptiker sind mit ihrer Vorstellung von Europa als Freihandelszone mit regelmäßigen politischen Konsultationen zum fairen Abgleich der Interessen wahrscheinlich einer pragmatischen Lösung für einen europäischen Neuanfang am nächsten. Wir sollten hören, was sie zu sagen haben.

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