© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Auf dem Grünen Hügel fand sie ihre Berufung
Von beklemmender Ausdruckskraft: Vor hundert Jahren wurde die Opernsängerin Martha Mödl geboren
Markus Brandstetter

Es gibt Musiker, die bis ins hohe Alter künstlerisch aktiv bleiben und bis zuletzt Außergewöhnliches leisten. Wer erinnert sich nicht an den fast neunzigjährigen Arthur Rubinstein, als dieser mit jugendlich blitzenden Augen und altersweiser Noblesse in der Londoner Wigmore Hall sein Abschiedskonzert gab, genau da also, wo er siebzig Jahre zuvor schon aufgetreten war? Wer denkt nicht an die Sopranistin Birgit Nilsson, die vierzig Jahre auf der Bühne stand und noch mit 64 Jahren in Frankfurt die Elektra sang? Und wem fiele nicht der 1925 geborene Tenor Nicolai Gedda ein, der 2003 den Hohepriester in Mozarts „Idomeneo“ auf Schallplatte aufnahm?

Aus diesem Holz war auch die 1912 in Nürnberg geborene Sopranistin Martha Mödl geschnitzt. Obwohl sie von Kind auf musikalisch gewesen war, vom Vater Klavierspielen und bei den Englischen Fräulein das Singen gelernt hatte, kam eine Karriere als Künstlerin erst einmal nicht in Frage. Nein, Buchhalterin sollte sie werden, einen vernünftigen Beruf lernen und einen soliden Mann heiraten. Der solide Mann war ihr nicht beschieden, aber Buchhalterin hat sie wirklich gelernt und zehn Jahre in diesem Beruf auch gearbeitet. Dann aber wurde der Drang zu Kunst, Musik und Bühne übermächtig. Mödl war bereits 28 Jahre alt, als sie endlich am Nürnberger Konservatorium ein Gesangsstudium begann.

Mitten im Krieg erlangte sie ihr erstes Engagement am Stadttheater Remscheid, wo sie als Azucena in Verdis „Troubadour“ debütierte. Auf Remscheid folgte Düsseldorf, wo sie bereits einige der großen Mezzo-Partien sang und den Grundstein für ihr großes Repertoire legte, das damals bereits von Bizets „Carmen“ über die Klytämnestra aus Strauss’ „Elektra“ bis zu Alban Bergs Marie aus dem „Wozzeck“ reichte. 1947 holte Günther Rennert die Sängerin an die Hamburgische Staatsoper, wo sie so unterschiedliche Partien wie Cherubino, Carmen und Mignon sang. Während Mödls Hamburger Jahren ereignete sich etwas Erstaunliches: Die Sängerin wechselte die Stimmlage, aus dem Mezzosopran wurde ein dramatischer Sopran.

Debüt in Bayreuth als Kundry im „Parsifal“

Für viele Musikliebhaber ist ein solcher Wechsel der Stimmlage ein Rätsel. Wie, fragen sie, kann eine Mezzosopranistin plötzlich Sopranrollen singen? Aus einem Baß wird doch auch kein Tenor, aus einem Tenor kein Bariton? Oder etwa doch? Die Antwort auf diese Fragen lautet: Auch wenn ein solcher Wechsel der Stimmlage nicht üblich ist, gibt es berühmte Beispiele dafür. 1823 hatte der Schriftsteller Stendhal in seiner Rossini-Biographie von einer zeitgenössischen Sängerin gesagt: „Sie besitzt die außergewöhnliche Fähigkeit, sowohl Alt- als auch Sopranpartien singen zu können.“ Stendhals Aussage trifft unverändert auch auf Maria Callas zu, die ebenfalls alle Register – vom Alt bis zum Koloratursopran – abdecken konnte. Auch Männer wechseln die Stimmlage. Während der Tenor Placido Domingo vor fünfzig Jahren als Bariton in spanischen Operetten (Zarzuelas) begann, reichte die Stimme des Baritons Sherrill Milnes bis zum hohen A, eine Terz nur unter dem hohen C des Tenors, was es Milnes erlaubt hätte, auch Tenorpartien zu singen.

Der Wechsel ins Sopranfach brachte Martha Mödl einen Karriereschub. Nun standen ihr die schweren, großen Rollen offen: Leonore in Beethovens „Fidelio“, Lady Macbeth in Verdis „Macbeth“ und natürlich die drei Brünnhilden aus Wagners Ring-Opern. Bald wurde nicht nur das Ausland auf die Mödl aufmerksam, sondern auch Wieland Wagner, der gerade dabei war, Bayreuth zu entrümpeln. Wagner paßte die schlanke und gar nicht walkürenhafte Mödl, die nicht nur singen, sondern auch spielen konnte, bestens in sein entmythologisierendes Konzept, weshalb er gerne sagte: „Was brauch’ ich einen Baum auf der Bühne, wenn ich die Mödl als Brünnhilde habe?“

1951 debütierte sie bei den neueröffneten Bayreuther Festspielen als Kundry im „Parsifal“. Damit hatte sie die Berufung ihres Leben gefunden: Bis 1967 gehörte sie nun jedes Jahr zum Bayreuther Ensemble, wo sie die anspruchsvollsten Wagnerrollen wieder und wieder interpretierte. Sie trat als Brünnhilde, Waltraute und Gutrune („Götterdämmerung“) auf, sang Isolde und Sieglinde in der „Walküre“ und stellte Fricka im „Rheingold“ dar. Zeitgleich mit der Amerikanerin Astrid Varnay und vor der Schwedin Birgit Nilsson und der Französin Régine Crespin war Martha Mödl die wichtigste hochdramatische Sopranistin in Wagner-Opern. Parallel zur Tätigkeit in Bayreuth begann sie eine internationale Karriere, die sie an die New Yorker Met, das Teatro Colón in Buenos Aires, nach Mailand, Paris, London und Brüssel und immer wieder an „ihre Häuser“ nach München und Wien führte.

Nach fünfzehn Jahren voller Streß, Hektik und Anstrengung, angefüllt mit Kofferpacken, Zeitumstellungen und der dauernden Angst vor Erkältungen, immer abhängig von Intendanten, Dirigenten und Regisseuren war Martha Mödl Mitte der 1960er Jahre erschöpft und ausgesungen – zumindest als Sopran.

Lebensklug, bescheiden und praktisch kehrte sie in das Mezzofach zurück und spezialisierte sich auf Charakterrollen, die nicht so schwer zu singen sind, aber Mödl die genuine Schauspielkunst abverlangten, die sie in reichem Maße besaß. In ihren Memoiren sagt sie: „Als ich die Wagner- und Strauss-Partien nicht mehr singen konnte, wußte ich nur eins: Vom Theater möchte ich nicht weg, das Theater ist mein Leben. Ich wollte, so lang es geht, so lang ich gesund bin, auf der Bühne stehen, und wenn es nur noch in Sprechrollen wäre.“ Sie wirkte nun in vielen Ur- und Erstaufführungen moderner Werke wie Wolfgang Fortners „Bluthochzeit“ oder Aribert Reimanns „Gespenstersonate“ mit. Zu ihren neuen Partien zählten komische und skurrile Nebenfiguren wie die Küsterin in Janáčeks „Jenufa“, die Gräfin Geschwitz in Bergs „Lulu“ und immer wieder und bis zuletzt, da war sie bereits 88 Jahre, die Gräfin in Tschaikowskis „Pique Dame“. Zwei Jahre zuvor, 1998, war ihre Biographie „So war mein Weg“ erschienen.

Für Kunst und Bühne hat Martha Mödl alles andere in ihrem Leben aufgegeben. Für den soliden Mann war, wie sie lachend eingestand, nie die richtige Zeit: „Als Nachfrage war, wollt’ ich keinen Mann, und als ich einen wollte, war keine Nachfrage mehr!“

Im Dezember 2001 ist die große Charakterdarstellerin Martha Mödl hochverehrt in Stuttgart gestorben.

Foto: Martha Mödl als Isolde bei den Bayreuther Festspielen 1952: Bis ins hohe Alter stand sie auf der Bühne

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