© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Sitz des Personzentrums
Ausstellung: „Schädelkult“ in Mannheim
Karlheinz Weissmann

Ob es sich um Indianergeschichten handelt, in denen vom Skalpieren die Rede ist, oder eine Abbildung in einem alten Lexikonband, die Schrumpfköpfe zeigt, ob es um den Totenkopf auf der Piratenflagge geht oder um das Warnsignal für Gift, um den „Kristallschädel“, dessen Spur Indiana Jones folgt, oder den traurigen Überrest auf dem Friedhof, mit dem Hamlet spricht, um ein Death-Metal-T-Shirt oder die Insignien des Geheimbunds Skull & Bones – auf die eine oder andere Weise ist jeder schon mit der besonderen Bedeutung dieses menschlichen Körper- oder Skeletteils in Berührung gekommen. Insofern muß man nicht weiter begründen, warum die auf Archäologie und Völkerkunde spezialisierten Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim dem „Schädelkult“ eine eigene Ausstellung widmen.

Der Begriff ist hier weit gefaßt, es geht um religions- wie kulturgeschichtliche Aspekte, ethnologische wie anthropologische Fragestellungen. Der Besucher geht in Mannheim fast die ganze Zeit durch abgedunkelte Räume, in denen die etwa dreihundert Stücke aufgestellt sind. Das hat sicher praktische Gründe, vor allem soweit es sich um empfindliche organische Materialien handelt, aber es wird auch eine Atmosphäre erzeugt, in der man von dem Schauer, den der menschliche Schädel auslöst, nie ganz frei ist. Obwohl es keinerlei Altersbeschränkung für den Zugang gibt, ist von einem Besuch mit Kindern dringend abzuraten.

Den Anlaß der Ausstellung bietet die Wiederauffindung der Schädelsammlung des Malers Gabriel von Max, die ganz im Geist des 19. Jahrhunderts nach positivistischen Grundsätzen geordnet war und im Eingangsbereich entsprechend präsentiert wird. Den Ausgangspunkt im eigentlichen Sinn hat man aber chronologisch gewählt, mit einem Neandertalerschädel und beigeordneten Steinwerkzeugen, die etwa 170.000 Jahre alt sind. Welchen Grund diese Inszenierung ursprünglich hatte, kann man nur vermuten. Dasselbe gilt für die „Trepanationen“ der Steinzeit. Im Neolithikum scheint man begonnen zu haben, kreisförmig, dicht nebeneinandergesetzt feine Bohrungen in den Schädelknochen zu treiben und dann die Stege zwischen den Löchern wegzusägen, so daß eine fast kreisförmige Öffnung entstand, durch die man Gehirnflüssigkeit entnehmen konnte. In manchen Fällen dürften diese Trepanationen medizinische Gründe gehabt haben, in anderen kultische. Fest steht, daß die, an denen man sie vollzog, oft genug überlebt haben und daß sie eine Sonderstellung in der Gesellschaft einnahmen.

Wahrscheinlich stand hinter der seltsamen Praxis schon die Annahme, daß das Gehirn mehr ist als irgendein anderes Organ und der Schädel eines Menschen Sitz seines Personzentrums. Ein Konzept, das sich – lange vor präzisen anatomischen Kenntnissen – fast universal verbreitet findet und so unterschiedliche Praktiken erklärt wie die separate Bestattung des Kopfes, dessen Aufbewahrung nach dem Tod – mit oder ohne Nachmodellierung der Gesichtszüge des Verstorbenen –, das Abtrennen der Gesichtspartie, um sie zur Maske zu formen, die Verwendung von Schädelteilen als Schmuck oder Amulett, die Kopf- oder Skalpjagd bei den Kelten genauso wie bei den Ureinwohnern Borneos, andere Methoden zur Gewinnung von Kopftrophäen bis hin zur Nachbildung von Totenschädeln als Symbolen in der Antike oder der Gegenwart, insbesondere um vor Gefahr zu warnen oder Verderben anzudrohen, aber auch – so im christlichen Europa –, um an die Vergänglichkeit des Menschenlebens zu erinnern.

Viele dahinterstehende Ideen wirken archaisch, aber durchaus nachvollziehbar. Selbst die Überlegung, daß man sich der Ahnen am besten über die Erhaltung ihrer Gesichtszüge erinnert, und der Kraft des Feindes am ehesten habhaft wird, wenn man seinen Kopf abschneidet und deponiert, kann man prinzipiell verstehen. Fremd wirken dagegen die Versuche der Vorläufer moderner Naturwissenschaft, eine eigene „Charakterkunde“ des Schädels zu entwerfen, die aus dessen Form und Eigenheiten auf Wesenseigenschaften Rückschlüsse zog. Ein Konzept der „Phrenologie“ (für Geistlehre), das man allerdings nicht mit der „Kraniometrie“ (für Schädelmessung) als Teildisziplin der Anthropometrie auf dieselbe Stufe stellen kann, wozu man in Mannheim neigt.

Ohne Zweifel behandelt die Ausstellung „Schädelkult“ ein Randgebiet. Aber es geht ihr nicht darum, irgendein morbides Schaubedürfnis zu befriedigen. Eher folgt man dem Ansatz, erstaunlich verbreitete Grundmuster der menschlichen Vorstellungswelt und Gesellschaftsorganisation von der Peripherie ausgehend neu und besser zu verstehen.

Foto: Mit Namen und Todesjahr versehener Schädel aus einem Beinhaus in Prien am Chiemsee: Vergänglich

Die „Schädelkult“-Ausstellung ist noch bis zum 29. April in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim zu sehen. Telefon: 06 21 / 2 93 31 50

Der ausgezeichnete Katalog (Schnell + Steiner) kostet im Museum 19,90 Euro. www.schaedelkult.de

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