© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Gegenentwürfe zu Hollywood
Unheilbare Entfremdung: Der existentialistische Filmregisseur Michael Haneke wird siebzig
Martin Lichtmesz

Kommoden, Schränke, Spiegel, Vasen, Uhren, Glastische, Schallplatten, Radios und anderes gutbürgerliches Inventar werden von dem biederen Familienvater mit brutalen Axtschlägen zertrümmert. Auch das Aquarium muß dran glauben: Wasserfluten ergießen sich in den Raum, Fische zucken erstickend auf dem Boden. Das kleine Mädchen bekommt einen Schreikrampf und kann von seiner Mutter nur mühsam beruhigt werden. Telefone und Klingelanlagen werden ausgeschaltet, Geldscheine zu Fetzen zerrissen und die Toilette hinabgespült. Nachdem die Wohnung in eine Trümmerhalde verwandelt ist, schluckt die Familie Gift und verendet, einer nach dem anderen, vor einem flackernden Bildschirm.

Wer diese zwanzigminütige Schlußsequenz aus Michael Hanekes Kinodebüt „Der siebente Kontinent“ (1989) gesehen hat, wird sie wohl sein Lebtag nicht vergessen können. Diese rituelle Selbstzerstörungsorgie beschließt die Schilderung des tristen, aber keineswegs ungewöhnlichen Tretmühlen-Alltags einer durchschnittlichen Mittelstandsfamilie. Psychologische Erklärungen werden nicht mitgeliefert, auch keine utopistischen „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“-Parolen. Stattdessen ein Akt der radikalen Negation, der den Zuschauer mit Absicht ratlos zurückläßt.

Der damals 47jährige Fernsehregisseur Michael Haneke, geboren in München, aufgewachsen in Wiener Neustadt (Niederösterreich), war offenbar keineswegs davon überzeugt, daß wir liberalen Wohlstandsmenschen in der besten aller Welten leben würden. Im Gegenteil schien mit unserer Zivilisation etwas fatal schiefgelaufen zu sein. Er folgte darin den Meistern des existentialistischen Autorenfilms wie Robert Bresson, Michelangelo Antonioni oder Ingmar Bergman, zunächst als Epigone, heute als deren vielleicht letzter legitimer Nachkomme. Im Sinne dieser Tradition sieht Haneke seine Arbeit auch als polemischen Gegenentwurf zum Konsumfilm amerikanischer Machart. Film soll für Haneke sein, was für Kafka die Literatur war: eine „Axt für das gefrorene Meer in uns“. Entsprechend unerbittlich schlagen seine Arbeiten voller Angst, Gewalt und sozialer Kälte zu.

Die österreichische Filmkritik mochte Haneke zunächst nicht besonders. Dem konservativen Boulevard galt er als perverser Nestbeschmutzer, den linken Cinephilen als verklemmter kulturpessimistischer „Thesenfilmer“. Seine Anklage gegen den verrohenden Einfluß der Medien klang altväterlich in einer Zeit, in der Quentin Tarantino zur hippen Ikone wurde. Haneke dagegen gab sich alle Mühe, dem Zuschauer den Spaß zu verderben, vor allem den an der Gewalt. Wer sich auf seine Filme einließ, begab sich in ein kaltes, freudloses, schmerzerfülltes Territorium.

„Bennys Video“ aus dem Jahr 1992 handelte von einem sozial verwahrlosten Teenager, der sich in eine Videospielwelt eingebunkert hat, in der er zunehmend den Kontakt zur Realität verliert. Eines Tages bringt er ein gleichaltriges Mädchen mit einem Schlachtschußapparat vor laufender Kamera um. Die größte Sorge der Eltern ist, den Vorfall möglichst gründlich zu vertuschen.

Seine Kulturkritik ist vieldeutiger geworden

„Funny Games“ (1997) zeigte, wie zwei in weiß gekleidete Jugendliche eine Familie in ihrem Ferienhaus überfallen, foltern und schließlich umbringen. Als einer der beiden Täter in Notwehr erschossen wird, greift der andere zur Videofernbedienung und spielt einfach den Film zurück, um die Szene günstiger enden zu lassen. Solche Kunstgriffe verliehen den frühen Haneke-Filmen den Beigeschmack intellektueller Konstrukte, die ihr Kalkül kaum verbergen konnten. „Funny Games“ war programmiert wie eine Maschine, bis an die Grenze zum Ärgernis.

Seit Haneke in Frankreich arbeitet, ist seine Kulturkritik elastischer, unmittelbarer, vieldeutiger geworden. Die dünne Schicht der Zivilisation ist in seinen Filmen beständig am Abblättern, die zwischenmenschliche Entfremdung schier unheilbar geworden, die Sinnzusammenhänge sind verlorengegangen. „Code: unbekannt“ (2000) besteht aus einem Geflecht fragmentarischer Erzählungen, die um Motive wie Entortung, Identitätsverlust und die Fragilität menschlicher Bindungen kreisen. Die Protagonisten sind moderne Nomaden und Monaden, verloren im Chaos übervölkerter Großstädte, mit ihrer nervösen Anspannung und latenten wie manifesten Gewalt, die nicht zuletzt die Folge der „modernen Völkerwanderung“ (Haneke), sprich der Masseneinwanderung und des Multikulturalismus ist.

Dieses Thema griff Haneke in „Caché“ (2006) wieder auf: Der liberale Moderator einer Literatur-Fernsehsendung wird – scheinbar – von einem Algerier terrorisiert, der die Begleichung einer alten Rechnung fordert. Natürlich ging es hier um die Angst des weißen (hier: französischen) Mannes vor den aggressiven Ansprüchen der einstigen Kolonialisierten, die nun heftig an die Türe pochen, um ihren Anteil am Wohlstandskuchen einzufordern.

Es ist vielleicht kein Zufall, daß Haneke gerade an diesem Punkt zurückruderte und sich mit dem preisgekrönten Film „Das weiße Band“ (2009) einem sozialen Pulverfaß der Vergangenheit zuwandte. In betörendem Schwarzweiß zeigte er ein norddeutsches Dorf des Jahres 1913, in dem es zu merkwürdigen sadistischen Anschlägen kommt, die vermutlich von einer Gruppe Kinder verschuldet werden. Die Kriminalgeschichte bleibt wie in „Caché“ ungelöst. Stattdessen wird eine alptraumhafte Atmosphäre evoziert und vage auf die Alice-Miller-These von der Geburt des Nationalsozialismus aus dem Geiste der „schwarzen Pädagogik“ hingedeutet. Haneke zeichnet diese Vergangenheit als malerisch, schön, erzdeutsch, aber eben auch erzböse, und die artigen, bezopften Kinder als potentielle blonde Bestien.

Trotz der konservativen Grundierung seiner Kulturkritik zeigt sich hier, wie sehr der vom Thema „Schuld und Verdrängung“ besessene Regisseur in den üblichen Bewältigungsdogmen und Prägungen seiner Generation befangen ist. Am 23. März wird Michael Haneke siebzig Jahre alt.

Foto: Strenge Sitten und Rituale im Haus des Pfarrers (Filmszene aus Michael Hanekes „Das weiße Band“, 2009): Erzdeutsch, erzböse, Michael Haneke in Cannes

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