© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Kinderfeindlichkeit und Überbehütung
Studien: Nachwuchs leidet zunehmend unter Zeitmangel
Andreas Ferber / Marcus Schmidt

Derzeit fällt es Klaus Wowereit nicht ganz so leicht wie sonst, den Gelassenen zu spielen. Der Regierende Bürgermeister von Berlin wirkt angeschossen. Von allen Seiten wird plötzlich das Feuer auf ihn eröffnet. Eine Situation wie sie der SPD-Politiker in seiner inzwischen fast elfjährigen Amtszeit bisher noch nicht erlebt hat. Immer mehr fragen sich nun, überlebt er die Krise politisch?

Die vom aufmüpfigen Raed Saleh geführte Fraktion im Abgeordnetenhaus probt nicht nur den Aufstand, sie vollzieht ihn sogar. Außerdem will der mächtige linke Flügel ganz offenbar Wowereits Vertrauten Michael Müller als Landesparteichef loswerden. Und nicht zuletzt stellen Presse und Opposition ungemütliche Fragen zu seinen Gratis-Flügen und Umsonst-Urlauben. Für den selbstherrlichen Regenten ist in den vergangenen Wochen eine äußerst heikle Gemengelage entstanden.

Klammheimliche Freude bei vielen Genossen

Nimmt man alles zusammen, sind die Vorwürfe bezüglich seiner Kontakte zum Veranstaltungsorganisator Manfred Schmidt, dessen Nähe bereits den seinerzeitigen Bundespräsidenten Christian Wulff in Bedrängnis und letztlich zu Fall brachten, noch am ehesten auszuhalten. Wowereit hatte auf Schmidts spanischer Finca kostenlos Urlaub gemacht. Auch daß sich der 58jährige im Privatjet von Unternehmer Heinz Dürr zweimal hat kostenlos nach London fliegen lassen, um dort Golf zu spielen, dürfte ihm politisch nicht das Genick brechen. Nicht, weil er angibt, dafür einige hundert Euro an ein Schwulenprojekt und die Aidshilfe gespendet zu haben, sondern weil all das lange zurückliegt. Es spielt in den Jahren 2002 bis 2004. Unter den Journalisten herrscht zwar Aufregung. Es ist aber noch kein Jagdfieber à la Wulff ausgebrochen.

Sollte nicht noch mehr von solchen Nassauer-Geschichten herauskommen, kann Wowereit das durchstehen, auch wenn dieses Messen mit zweierlei Maß der Presse für den gefallenen Bundespräsidenten bitter sein dürfte. Viel gefährlicher für den Regierenden Bürgermeister ist, daß seine Berliner SPD ganz offen gegen ihn rebelliert. Von „Wowereit-Dämmerung“ ist inzwischen die Rede.

Zunächst entschied sich die Fraktion in einer Kampfabstimmung gegen den von ihm und seiner Arbeitssenatorin Dilek Kolat (ebenfalls SPD) ausgearbeiteten Vorschlag zum Mindestlohn im öffentlichen Dienst. Während die Regierungspolitiker 7,50 Euro wollten, forderte Saleh einen Euro mehr. Die Fraktion folgte in einer Kampfabstimmung ihrem frisch gewählten Vorsitzenden – eine unerhörte Erniedrigung für den erfolgsverwöhnten Wowereit.

Der aus dem Westjordanland stammende Saleh ist extrem machtbewußt und ehrgeizig. Daß er den bisher in der eigenen Partei für unantastbar gehaltenen Senatschef so schnell herausfordern würde, hatten selbst Insider nicht vermutet. Offenbar euphorisiert vom Erfolg ihres erst 34 Jahre alten Vormannes im Abgeordnetenhaus macht die Parteilinke nun ziemlich offen Front gegen Wowereit – und zwar in einer Personalfrage. Und so etwas ist bekanntlich noch symbolträchtiger als Sachentscheidungen.

Wowereits Spezi Michael Müller muß im Juni ernsthaft um seine Wiederwahl zum Landesvorsitzenden fürchten. Der Sprecher der Parteilinken und Freund von Saleh, Jan Stöß, erwägt eine eigene Kandidatur. Für diesen Fall werden Müller auf dem Parteitag kaum noch ernsthafte Chancen eingeräumt.

Der Regierende Bürgermeister versteht dies völlig zu Recht als Angriff auf seine eigene Person. Schießt man ihm den Vertrauten an der Parteispitze weg, wäre dies ein offenes Mißtrauensvotum. Ohne den Rückhalt seiner Partei kann Wowereit sein Amt als Regierungschef der Hauptstadt nicht mehr ausfüllen. Ein Rücktritt wäre für diesen Fall wahrscheinlich.

Noch hat Wowereit drei Monate Zeit, den Laden wieder auf Kurs zu bringen. Dies wird jedoch schwer. Viele Genossen empfinden klammheimliche Freude über die kritischen Medienberichte zu Wowereits Reiseverhalten. Die daraus entstehende Schwäche wiederum macht auch manch vermeintlich loyalen Parteifreund mutig. Der Gegenwind nimmt zu und könnte sich auf dem Parteitag zum Orkan verstärken.

Ein nicht unerheblicher Teil der Partei will in beinahe selbstzerstörerischer Absicht mit dem Aushängeschild abrechnen. Viele nehmen Wowereit übel, daß er sich nach der Abwahl von Rot-Rot in die Arme der CDU geworfen hat und eine Koalition mit den Grünen verhinderte.

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