© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Frisch gepresst

Phantasien.Wenn zwei notorische Weltverbesserer wie der 1917 geborene Publizist Stéphane Hessel und der vier Jahre jüngere Soziologe Edgar Morin am Schluß ihres „Wege der Hoffnung“ aus der kapitalistischen Systemkrise aufzeigenden Traktats neben der „Bändigung des Finanzkapitalismus“ allen Ernstes als vordringlichste Aufgabe den Kampf gegen die „barbarische Phantasie vom ethnisch reinen Staat“ erachten, dann scheinen sich die beiden irgendwo im Zeittunnel verirrt zu haben. Denn abgesehen davon, daß diese „Phantasie“ in „multikulturellen“ Gesellschaften des Westens mit Ausnahme des von ihnen nicht erwähnten Staates Israel keine politische Rolle mehr spielt, gibt es gute Gründe zur Annahme, daß ein Plus an nationaler Homogenität mit sozialer Stabilität auch festere Widerstände gegen die von ihnen beklagte „Ausbeutung“ durch globalisierte „Spekulation“ schüfe. Versunken in ihre unsäglichen „Alle Menschen werden Brüder“-Deklamationen dringen diese kosmopolitischen Repräsentanten des assimilierten französischen Judentums nirgends zu einer brauchbaren Analyse der bestehenden Sozial- und Wirtschaftsordnung vor, die selbst für Morin, den marxistischen Soziologen, von „anonymen Mächten“ beherrscht zu sein scheint. (ob)

Stéphane Hessel, Edgar Morin:          Wege der Hoffnung. Ullstein Verlag, Berlin 2012, gebunden, 71 Seiten, 9,99 Euro

 

Ehrenkodex. Die Mehrheit muslimischer Familien in Deutschland ist entweder stark religiös oder konservativ. Sie legen großen Wert auf Traditionen, Familie und das, was sie unter Ehre verstehen. Die Brüder kontrollieren ihre Schwestern, Ehen werden arrangiert und ungehorsame Familienmitglieder diszipliniert. Trotz dieser wenig überraschenden Erkenntnisse liefert die Milieustudie des Erziehungswissenschaftlers Ahmet Toprak doch neue intime Einblicke in die Gefühlswelt von Muslimen in Deutschland. Aufgerieben zwischen rückständigem Islam und einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, in der traditionelle Werte längst verpönt sind, leiden besonders junge Moslems unter einer zunehmend gefährlichen Orientierungslosigkeit. Dem larmoyanten Unterton fruchtloser Islamdebatten, der stets die angebliche soziale Benachteiligung der Muslime anprangert, kann sich auch Toprak allerdings nicht entziehen. (ho)

Ahmet Toprak: Unsere Ehre ist uns heilig – Muslimische Familien in Deutschland. Herder Verlag, Freiburg 2012, broschiert, 192 Seiten, 14,99 Euro

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