© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Der frenetische Wille zur Selbstabschaffung
Der Kulturphilosoph Frank Lisson sieht im westlichen Schuldkomplex und dem daraus erwachsenden Selbsthaß eine lebensbedrohliche Dekadenzerscheinung
Martin Lichtmesz

Vor einem Jahrhundert beherrschte der weiße Mann den Globus, politisch, kulturell, technologisch, und es schien, als ob er stetig „herrlichen Zeiten“ entgegenginge, wie etwa Wilhelm II. versprach. Zwei Weltkriege später hatten nicht nur die Deutschen ihre Macht eingebüßt: Auch die weltumspannenden Kolonialreiche zerbröselten, und Jahrzehnte später sind selbst ihre Erben, die Vereinigten Staaten von Amerika, auf dem absteigenden Ast.

Bildeten die besiegten Deutschen lange Zeit die Avantgarde einer Kultur des Schuldkomplexes und der Selbstverachtung, so sind ihnen die meisten westlichen Nationen inzwischen nachgezogen, und überbieten sie zum Teil noch. Während die Syndrome der „weißen Schuld“ und der „politischen Korrektheit“ zu konstitutiven Elementen des liberalen Systems geworden sind und die verbliebenen Grundlagen der westlichen Kultur und Identität abschleifen, stellt sich die Frage, woher dieser frenetische Wille zur Selbstabschaffung eigentlich kommt. „Ursachen und Verlauf des kulturellen Selbsthasses“ versucht der 1970 geborene Kulturphilosoph Frank Lisson in seinem Buch „Die Verachtung des Eigenen“ zu erklären.

Wie Lissons „Homo Absolutus“ (2008) hat auch dieses ein eigentümliches Doppelgesicht: Der Autor verweigert zwar jede offene Parteinahme für die schwindende „Kultur“ gegen die heute siegreiche „Zivilisation“, nimmt dabei aber den Widerspruch in Kauf, daß die bloße Unterscheidung dieser beiden Dinge bereits eine Positionierung impliziert. Was auf den ersten Blick wie Dekadenzkritik wirkt, ist in Wirklichkeit die Offensive eines radikalen und seine Einsamkeit betonenden Freigeistertums, das aber eben doch für sich beansprucht, einen Glutkern dessen, was man einst unter „Kultur“ verstand, zu bewahren.

Lisson zitiert etwa zustimmend Ludwig Tieck: „Und so fühle ich, daß bei uns auf immer alles, was ich das Rechte nennen möchte, sei es in Philosophie, Kunst oder Religion, als ein Eremit wohnt, dessen Pflicht es ist, keiner Gemeinschaft anzugehören.“ Von diesem schmalen Fußbreit Boden aus stellt Lisson dem kranken Abendland die Diagnose, und er hat keine guten Nachrichten: Diese Krankheit führe unwiderruflich zum Tode. Mehr noch, der Wurm sei von Anfang an im Apfel gewesen, und jenes Abendland ein problematisches, identitätsfragiles Konstrukt, stets anfällig für Minderwertigkeitsgefühle, leidend am Ungenügen und Scheitern des Ideals und am daraus resultierenden Haß der Enttäuschung, zweifel- und verzweiflungssüchtig, zerrissen zwischen Glaube und Vernunft, geplagt von Angst und den Utopien verfallen.

Besonders Böses hat Lisson hier über das Christentum, insbesondere seinen Sündenbegriff, zu sagen, das er geradezu als eine Primärinfektion im Organismus der weißen Völker betrachtet. Diese Zerrissenheit war jedoch auch ein immens schöpferischer Stachel, der eine einzigartige weltgestalterische Wirkung entfachte. Es seien ein und dieselben Antriebe, die sich nun autoaggressiv nach innen wenden und eine Art inversen Vernichtungsimperialismus vorantreiben – allerdings eher aus Erschöpfung als aus fehlgeleiteter Energie. Wo die Geschichte des Abendlandes aber als 2000jährige permanente Krankengeschichte ohne Heil verstanden wird, deren Hervorbringungen im wesentlichen Fieberträume der Unerlösten und Verdammten sind, wo im Grunde alle Fenster der Transzendenz der menschlichen Misere nur Gemälde auf Gefängnismauern sind, da ist ein Nihilismus Cioranscher Prägung nicht mehr fern.

Lissons Denken hat einen durchaus destruktiven Zug, sein Buch selbst ist über weite Strecken Ausdruck eben jenes „kulturellen Selbsthasses“. Es scheitert trotz aller eindrucksvollen Dichte an seinem Anspruch, die Ursachen der Krankheit befriedigend festzunageln, wie alle großen Entwürfe dieser Art. Das mindert seinen Wert selbstverständlich nicht: Auf jeder Seite stellen sich neue Fragen, Anstöße und Anstößigkeiten, Sprüche und Widersprüche, und der Leser, der das Unglück hat, in diese Fragestellungen zu geraten, muß für sich selbst entscheiden, ob er hier einen Scheideweg oder eine Sackgasse sieht. 

Frank Lisson:       Die Verachtung des Eigenen. Über den kulturellen Selbsthaß in Europa. Edition Antaios, Schnellroda 2012, gebunden, 300 Seiten, 25 Euro

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