© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Eine Heilung der Nation war nicht beabsichtigt
Der Historiker Stefan Scheil über die transatlantischen Wechselwirkungen, die einen wesentlichen Mechanismus der Umerziehung des deutschen Volkes nach 1945 beschreiben
Thorsten Hinz

Die Bonner Republik war seit ihrer Gründung ein unverzichtbarer Bündnispartner der westlichen Siegermächte. Gleichwohl blieb sie das Objekt von Maßnahmen, mit denen die ehemaligen Kriegsgegner auf gesellschaftspolitischer, psychologischer und ideologischer Ebene ihre Intentionen weiterverfolgten. Der Historiker Stefan Scheil, der in mehreren Büchern nachgewiesen hat, daß außer Deutschland noch weitere Staaten an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs teilhatten, ist wie kein anderer geeignet, diese Maßnahmen zu beschreiben und einzuschätzen.

Das Konzept der USA – um sie geht es vor allem – lief nach 1945 darauf hinaus, eine deutsche Westbindung durch Elitentransfers herbeizuführen. Dazu wechselten sie, wie Scheil schreibt, bald von der Besatzungs- zur Besetzungspolitik. Die direkte, flächendeckende Kontrolle wurde gelockert, stattdessen wurden Vertrauensleute an strategischen Positionen in Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen installiert, die eine neue, US-affine Elite heranziehen sollten, die sich dann fortlaufend reproduzierte, die Gesellschaft durchdrang und veränderte.

Gleichzeitig übten die Alliierten einen massiven Druck auf Kultusminister und Bildungsbehörden aus, „demokratische Wissenschaften“ einzuführen, daß heißt, Wissenschaft und Lehre in ihrem Sinne zu politisieren. Sie waren klug genug, ihre Einflußnahme nach Kräften zu verbergen. Was eine Übernahme des Fremdinteresses war, sollte den Deutschen als Ergebnis des eigenen Läuterungsprozesses erscheinen.

Scheil kann sich nur auf wenige, immerhin wichtige Vorarbeiten stützen: Auf Caspar von Schrenck-Notzings „Charakterwäsche“. Auf Hans-Joachim Arndts Buch „Die Besiegten von 1945“, das die Implementierung der Politikwissenschaft beschreibt, die sich mit den formalen Regeln der Demokratie beschäftigt, aber außerstande ist, die Machtgrundlagen zu analysieren, auf denen Nachkriegsdeutschland basiert. Weiterhin auf den Sammelband „Die intellektuelle Neugründung der Bundesrepublik“ von Clemens Albrecht und anderen, der den Re-Import der „Frankfurter Schule“ und der Sozialwissenschaften aus dem US-Exil und ihre Inthronisierung als zentrale Stätte gesellschaftlicher Sinnproduktion behandelt.

Scheil führt ihre Erkenntnisse zusammen, korrigiert und ergänzt sie nötigenfalls – auch durch eigene Archivstudien – und beschreibt die Maßnahmen als den Versuch, Deutschland als politisches Subjekt langfristig auszuschalten. Nun war das deutsche Bildungs- und Universitätssystem solider als das amerikanische und brachte noch unter Hitler technische und wissenschaftliche Leistungen hervor, an denen sich die Sieger reichlich bedienten. Die Gegen- und Beharrungskräfte waren daher beträchtlich. In Resten existiert das dreigliedrige Schulsystem zum Beispiel bis heute.

Entscheidend für die geistige Neuausrichtung waren die Hakenkreuzschmierereien, mit denen Ende der 1950er Jahre Synagogen verunstaltet wurden, sowie Drohbriefe an Juden. Zwar kam der – inzwischen bestätigte – Verdacht früh auf, daß es sich um Aktionen handelte, die von der DDR-Staatssicherheit gelenkt wurden, doch einflußreiche Kräfte im In- und Ausland malten nur zu gern das Schreckbild einer neonazistischen Renaissance an die Wand. Die Bundesregierung zeigte sich hilflos. Nun wurden die Zahl der Lehrstühle für Politologie drastisch erhöht, die politische Bildung forciert und gab das Bundes-innenministerium einen Bericht über „Erfahrungen aus der Beobachtung und Abwehr rechtsradikaler und antisemitischer Tendenzen“ heraus, den Vorläufer der Verfassungsschutzberichte. Die Politologie, die nun Definitionsmacht erlangte, scheiterte bezeichnenderweise daran, einen substantiellen Begriff von Deutschland zu liefern. Sie bezog sich ausschließlich auf den westdeutschen Teilstaat, verdinglichte die fremdbestimmten Nachkriegsverhältnisse und schrieb ihnen eine naturgesetzliche, vom Menschen nicht hinterfrag- und veränderbare Evidenz zu. Sie war und ist eben nur eine „Legitimations-“ und „Kapitulationswissenschaft“, wie Scheil sarkastisch schreibt.

Die avisierte „Heilung der Nation“ mußte unter diesen Umständen scheitern, sie war auch gar nicht beabsichtigt. Scheil zitiert aus zwei Briefen des Ober-Therapeuten Theodor Adorno, der 1943 wünschte: „Also: möchten die Horst Güntherchens in ihrem Blut sich wälzen, und die Inges den polnischen Bordellen überwiesen werden, mit Vorzugsscheinen für die Juden.“ Im Mai 1945 hieß es triumphierend: „Millionen von Hansjürgens und Utes tot, wahrscheinlich dem Volk das Genick gebrochen, so daß es aus der Weltgeschichte ausscheidet wie die Karthager nach dem zweiten Punischen Krieg.“. Die Sex&Crime-Phantasie sollte ihn am 22. April 1969 im Hörsaal der Frankfurter Universität einholen, als die Inges und Utes, auch auf den Weg der sexuellen Befreiung gebracht, ihn mit entblößten Brüsten umtanzten und er mit schreckgeweiteten Augen in einen Höllenschlund starrte. Wer schreibt die fällige Fortsetzung von Thomas Manns „Faustus“-Roman (für den Adorno Zuarbeit geleistet hatte)?

Dieses kluge Buch bestätigt den Ruf Stefan Scheils als Zeithistoriker, der den Dingen tiefer als die anderen auf den Grund geht. Die Beklemmung, die die Lektüre hinterläßt, liegt am behandelten Stoff. Den „Faustus“-Roman beschließt der Erzähler mit der Bitte: „Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.“

Stefan Scheil: Trans- atlantische Wechselwirkungen. Der Elitenwechsel in Deutschland nach 1945. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2012, broschiert, 275 Seiten, 28 Euro

Foto: Der Kommandant des amerikanischen Sektors von Berlin, Oberst Frank Howley, spricht während der  Gründungsveranstaltung der Freien Universität Berlin 1948: Eine neue, US-affine Elite heranziehen

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