© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Der Flaneur
Die Natur als Feind
Josef Gottfried

Münchner Maxvorstadt. Es ist bald ein Uhr in der Früh. Draußen dunkel, in den Cafés ist es hell, dort sitzen diese eleganten jungen Leute, die vor hundert Jahren sicher Bourgeoisie gewesen wären.

Fast ist mir so, als säße ich nicht mit ihr drin, sondern beobachtete uns von draußen, wie wir uns anschauen, nach einer Neuheit lächelnd zurücklehnen, um dann doch wieder die Köpfe zusammenzustecken und mit Neckereien die Grenzen auszutesten.

Ich bin noch so nüchtern, wie man nach Rotwein mit einer Schönen, Spannenden, Neuen, Illegitimen sein kann. Nach Kräften war ich intelligent, charmant und witzig, und jetzt fährt bald die letzte U-Bahn. Als wir das Lokal verlassen, schlägt uns die Kälte entgegen, es ist nämlich Winter. Sie friere, erklärt sie und hakt sich bei mir ein. Ihre linke Schulter dicht an meiner rechten.

Doch damit nicht genug, wir wollen die Straße überqueren und stehen am Gehwegrand: Als sie ihren Kopf dreht, um nach kommenden Autos zu schauen, berührt ihr Zopf mein Gesicht, und ich kann ihre Haare an meiner Wange riechen, was mir außerhalb der Grenzen des Anstands gefällt. Dazu das schlechte Gewissen.

Drüben gehen wir weiter, beide schweigend, unser Atem kondensiert in der Luft. Eine ältere, feine Dame passiert uns und zwinkert mir aufmunternd zu. Ich senke den Kopf und schaue auf den Bordstein. Dort fallen mir gebrochene Bodenplatten auf, in den Bruchritzen Unkraut. Ich könnte es problemlos, einfach so ausreißen, aber doch zerstört es Dinge, die ich selbst nicht zerstören könnte.

Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter, ihr Geruch. Wenn die Kultur der Natur abgerungen wurde und die Natur ihr Terrain nie preisgeben wird, dann ist die Natur die Bedrohung der Kultur, des Wahren, Guten. Man könnte meinen, die Natur wäre der Feind.

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