© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Grausame Vorstellung
Abtreibung nach der Geburt: Eine ethische Kontroverse über die Tötung von Babys
Baal Müller

Wenn Alberto Giubilini und Francesca Minerva, zwei im australischen Melbourne lehrende Philosophen, einen Kongreß besuchen, sollten die übrigen Teilnehmer lieber in einem anderen Hotel übernachten als die beiden Experten für medizinische Ethik. Schließlich gehen diese davon aus, daß eine „Person in einem moralischen Sinne“ nur derjenige sei, der seiner Existenz insoweit einen Wert zumessen könne, als er es als Verlust empfinden würde, dieser beraubt zu werden – so behaupten sie jedenfalls in ihrem Anfang März im Journal of Medical Ethics erschienenen Aufsatz „After-birth abortion: why should the baby live?“ (siehe unten)

Zwar beziehen sie sich in ihrem derzeit nicht nur in der angelsächsischen Fachwelt hitzig diskutierten Artikel „Warum sollte das Baby leben?“ ausdrücklich auf die „Abtreibung“ von Neugeborenen, aber die dürftigen Argumente, die sie vortragen, sprechen nicht gegen die Tötung von Schlafenden, schließlich empfinden diese eine schnell durchgeführte Liquidierung auch nicht als Verlust. Wieder erwacht, würden sie ihre Tötung zwar als solchen wahrnehmen, aber das ist nach Auffassung der beiden Moralphilosophen unerheblich, denn die Rechte aktuell existierender Personen sind grundsätzlich gewichtiger als diejenigen lediglich potentieller, künftiger Träger von Personalität, die Schlafende oder aus anderen Gründen nicht über Bewußtsein verfügende Menschen nun einmal sind. Gewöhnlich erwacht man wieder aus seinem Schlaf, aber auch der Säugling wird eines Tages zum Bewußtsein seiner moralischen Personalität erwachen; der Unterschied besteht nur in der Zeitdauer.

Leider belehren uns die beiden Denker nicht darüber, zu welchem Zeitpunkt das Bewußtsein des Kindes hinlänglich ausgebildet ist, um seine „Abtreibung“ als verwerflich erscheinen zu lassen. Da die Entfaltung der Persönlichkeit sich über Jahrzehnte hinzieht, können sie dies auch nicht, denn jeder Versuch, in eine kontinuierliche Entwicklung einen plötzlichen Neubeginn zu projizieren, scheitert an den Paradoxien der Kontinuität, an der sich schon die antiken Philosophen abarbeiteten. Das Kind hat einen Tag nach seiner Geburt noch keinen höheren Bewußtseinsstatus erlangt als unmittelbar nach dieser, ebensowenig nach zwei oder drei Tagen; folglich dürfte es nach dieser Logik auch nach zwei Wochen noch getötet werden. Und warum nicht bis zur Volljährigkeit? Oder gar noch darüber hinaus, wenn sich ein Individuum hartnäckig seiner moralischen Personwerdung verweigert?

Gewiß empfindet der Erwachsene seine Tötung meist als Verlust, aber Giubilini und Minerva verweisen ausdrücklich auch auf zum Tode verurteilte Kriminelle, die ihren Status als Subjekte mit Lebensrecht verwirkt haben und trotzdem nicht gerne sterben – offenbar nehmen sie also noch weitere Personalitätskriterien als nur die bewußte Leidensfähigkeit an, etwa die Fähigkeit, sich in die menschliche Gemeinschaft einzufügen.

Sicher ist nur eines: „The newborn and the fetus are morally equivalent“ – das neugeborene und das ungeborene Kind sind moralisch gleichrangig; die Geburt bewirkt keinen signifikanten Unterschied im Bewußtsein des Kindes, sondern dieser resultiert allein aus unseren ethischen und juristischen Zuschreibungen. Die Debatte, die Giubilinis und Minervas Aufsatz ausgelöst hat, zeigt allerdings, daß ihr Schuß ziemlich nach hinten losgeht, schließlich bestätigen sie ungewollt die Positionen von Abtreibungsgegnern, indem sie, wie Robert Bublak (Ärzte-Zeitung vom 5. März) feststellt, „ein Gespür für die Willkür“ geweckt haben, „die jeder Fristsetzung für eine Abtreibung anhaftet“.

Ihre Argumentation ist so folgerichtig wie grausam, und das Entsetzen, daß die Vorstellung der Tötung neugeborener Kinder bei jedem seelisch gesunden Menschen auslöst, zeigt, daß man ihre pervertierte Darstellung lediglich vom Kopf auf die Füße stellen muß: Wenn eine „Abtreibung“ nach der Geburt – die beiden „Ethiker“ benutzen diesen mehr oder weniger akzeptierten Begriff, um die treffenderen Worte „Tötung“ oder „Ermordung“ zu vermeiden – gerade angesichts der Schuldlosigkeit und Schutzbedürftigkeit des Kindes als besonders böse erscheint und zwischen dessen Zuständen vor und nach der Geburt kein wesentlicher Unterschied besteht, dann muß die Frage nach der Legitimität der Abtreibung überhaupt gestellt werden.

Ganz besonders gilt dies für die Fristenlösung, die allein auf dem Kompromiß zwischen Lobbygruppen beruht, unter denen die Abtreibungsbefürworter einen weitaus größeren Einfluß haben als ihre Gegner, während die Indikationenlösung, ungeachtet der Fragwürdigkeit besonders der „sozialen Indikation“ (die man besser durch ein Erziehungsgehalt bekämpfen könnte), wenigstens noch auf sachlichen Erwägungen beruhte.

Die Tötung von mehr als hunderttausend ungeborenen Kindern jährlich ist einer Gesellschaft – zumal einer, die sich soviel auf ihre moralischen Standards einbildet – zutiefst unwürdig; und wenn diese sich auch noch über das Ausbleiben künftiger Rentenzahler beklagt und an die fixe Idee klammert, daß immer mehr, jetzt schon dazu ungeeignete, Zuwanderer eines Tages diese Aufgabe erfüllen werden, dann leidet sie an einer kollektiven Psychose.

Ungeachtet der Konsequenz eines Abtreibungsverbotes, das aus der Logik der beiden Ethiker, wenn sie auch einen ethischen Sinn besäßen, eigentlich folgen müßte, ist jedoch klar, daß ein solches – in einer modernen, moralisch heterogenen Gesellschaft – kaum durchsetzbar und im Fall von Vergewaltigung, schweren Schäden des Kindes oder zu erwartenden unverhältnismäßigen gesundheitlichen Risiken für die Mutter auch nicht wünschenswert wäre. Anscheinend ist die Zugrundelegung von Personalität und Selbstbewußtsein, wie das Beispiel von Giubilini und Minerva mehr als deutlich zeigt, aber nicht geeignet, um die Rechte von Kind, Mutter (wer spricht übrigens vom Vater?) und staatlicher Gemeinschaft gegeneinander abzuwägen. Solange eine Ethik ausschließlich rationalistisch und individualistisch begründet wird und die emotionalen, religiösen und volksbezogenen Aspekte ausklammert, kann sie diese Probleme nicht wirklich ermessen.

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