© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Im Namen des Guten die Welt verändern
Avaaz, das international erfolgreiche Internet-Kampagnen-Netzwerk: Per Fingerdruck am Rechner Assad stürzen und den Klimawandel stoppen
Sverre Schacht

Das Morden in Syrien eskaliert; Assad geht gnadenlos gegen Zivilisten vor und versucht den Syrischen Frühling zu ersticken“, lautet eine Meldung und schließt: „Zeit zum Handeln“. Eine andere fordert auf, „Hoffnung“ nach Syrien zu „schmuggeln“: „Mutige syrische Avaaz-Mitglieder“ würden „auf den Straßen abgeschlachtet, weil sie Freiheit“ forderten. „Sie brauchen medizinische Ausrüstung und andere Hilfsmittel, um die Bewegung am Leben zu halten, und zählen auf unsere Gemeinschaft und die Menschen der Welt für wichtige Unterstützung.“ Die Avaaz-Botschaft:  „Spenden Sie jetzt!“

Avaaz? Avaaz ist die seit Jahren mitgliederstärkste Internetbewegung. Sie will „per Mausklick für eine bessere Welt“ kämpfen. „Avaaz ist ein Kampagnennetzwerk, das mit Bürgerstimmen politische Entscheidungen weltweit beeinflußt“. So stellt sich die „13.650.000 Mitglieder weltweit“ vernetzende Internetbewegung selbst vor.

Die Nichtregierungsorganisation „Avaaz“, was auf persisch „Stimme“ bedeutet, sieht sich als „grenzübergreifende Gemeinschaft, die demokratischer, und möglicherweise effektiver ist als die Vereinten Nationen“, so ein von Avaaz beworbenes Zitat aus der Süddeutschen Zeitung. Die „Welt in Bewegung“ zu versetzen, lautet eines der an Schlagworten reichen Kampagnenorganisation aus New York. Sie versteht sich als Graswurzelbewegung.

„Avaaz hat meine Sicht auf die Welt verändert. Früher dachte ich, daß ich keinen Einfluß habe, keinen Wandel herbeiführen und nur unsere Situation beklagen kann“, wirbt ein Mitglied aus Uruguay.

Die Macher der Organisation finden auf der Klaviatur des Zeitgeistes elegant zentrale Akkorde, vereinen Occupy-Bewegung, Vorstellungen von Moderne in einer Zivilgesellschaft und klassisch friedensbewegte Themen mit Umweltschutz und Moral. Als Alternative zu klassischen Aktionen verspricht Avaaz Bürgern, Frust über lange Entscheidungswege zu überwinden, „Kampagnen mit außergewöhnlicher Gewandtheit, Flexibilität, Fokus und in einem noch nie dagewesenen Umfang“. Das geschieht über Mitmachaktionen zu praktisch allen politischen Themen. Mit dem Mausklick „Senden“ kann jeder nach Eingabe von Name und E-Mail als Mitglied gelten.

Der erste Blick in die fast allein über das Netz handelnde Avaaz-Welt fällt auf eine Nachrichtenleiste „was gerade jetzt passiert“. Im Sekundentakt wechseln hier Bilder, auch solche, die das Unrecht der Welt drastisch dokumentieren und offenbar nicht gefahrlos entstanden. In Syrien organisiert Avaaz die Einschleusung westlicher Journalisten und setzt zugleich heimische Berichterstatter als Bürgerreporter in Szene: „Hoffnung nach Syrien schmuggeln“. Rund 200 Menschen – so bis vor kurzem der oppositionelle Blogger Danny Abdul Dayem (JF 9/12) – verbreiten aus dem nahöstlichen Land ihre Sicht der Dinge für Avaaz. So schlägt die Organisation Wurzeln in den Medien.

In Libyen und Ägypten griff sie den Vorkämpfern für Veränderung mit modernster Kommunikationstechnik unter die Arme. In Libyen machte sich Avaaz für die Flugverbotszone und damit, so Kritiker, für den Kriegseinsatz des Westens stark.

Auch gegen Acta, das umstrittene internationale Abkommen zum Schutz des Urheberrechts, ist Avaaz aktiv. Das Netzwerk übergab dem Europäischen Parlament in Brüssel eine Liste, die den Protest von 2,4 Millionen Nutzern im Netz gegen das von EU-Staaten und den USA geplante Abkommen dokumentiert: „In nur wenigen Tagen wird die Europäische Kommission einen letzten Rettungsversuch für Acta starten. Doch wenn wir jetzt einschreiten, wird dieser weltweite Angriff auf unsere Internetfreiheit in sich zusammenfallen.“

Professionelle Vermarktung auf den Punkt politischer Entscheidungen abzustimmen, ist der Schlüssel des Erfolgs von Avaaz: „Unterzeichnen Sie die dringende Petition an Kommissionspräsident José Manuel Barroso um den Gerichtshof aufzurufen, die ganze Wahrheit zu erzählen.“ Daß die Organisation neben dem Idealismus der „ganzen Wahrheit“ handfeste Wirtschaftsinteressen im Blick hält, zeigt die Kritik an der Deutschen Bank. „Mit Essen spielt man nicht“, belehrt Avaaz das Geldhaus. Vom Spiel amerkanischer Konzerne in diesem Markt ist nicht die Rede. Die Kampagne „EU: Retten Sie pflanzliche Arzneimittel“ sammelt ebenso kurzentschlossene Solidarität der Netzbürger. Avaaz fordert: „Alle Beschränkungen gegen pflanzliche Arzneimittel mit einer langen – inner- und außereuropäischen – Geschichte aufzuheben“.

Der Aufruf verlangt ungeprüften Zugang für pflanzliche Produkte und Kräuterextrakte zum EU-Markt. Ob dies Verbrauchern dient, mag bezweifelt werden. Trotzdem weist Avaaz hier fast 870.000 Unterzeichner vor. Die Netzstrategen locken sie mit der Behauptung:  „Die EU hat gerade den Zugang zu vielen pflanzlichen Arzneimitteln blockiert.“ Wer auf die Richtigkeit solcher Aussagen baut, klickt.

 Avaaz baut so mehrfach auf die Schnellebigkeit moderner Kommunikation. Doch Kampagnen im Tagestakt enden so rasch wie sie beginnen. Eine dauerhafte und vertiefte Auseinandersetzung ist unerwünscht. „Mögliche Kampagnen werden stichprobenartig an 10.000 Mitglieder verschickt“, so Kampagnenleiterin Stephanie Brancaforte. Was dabei nicht besteht, wird aussortiert.

Schon an der Wiege der heute 194 Staaten umspannenden Organisation standen 2007 erfahrene Kampagnenritter. Der erste Präsident, der Kanadier Ricken Patel, brachte seine Erfahrung in der „International Crisis Group“ ein. Zum Start sagte er: „Zunächst mal bin ich Mensch, und dann erst Bürger eines Landes.“ Er begrüßte mit dem Internet „eine technologische Revolution, wie es sie noch nie gegeben hat“, und beanspruchte für Avaaz „die Chance, die Menschen global zu vernetzen und ihre Anliegen zu artikulieren“. Die Lebensläufe der inzwischen 52 festangestellten Macher weisen Verbindungen zu den US-Demokraten auf, vor allem zu den linksliberalen US-Vorfeldorganisationen  „ResPublica“, „MoveOn.org“ und den linken australischen „GetUp!“-Netzwerkern. Patel besitzt als Mitbegründer von „ResPublica“ zudem beste Kontakte zu den Vereinten Nationen sowie der den US-Demokraten nahestehenden „Rockefeller Foundation“ und der „Gates Foundation“.

Über ihre Arbeit liefert Patels Gruppe den Demokraten bis zu Präsident Barack Obama eine Rückmeldung, was von ihrer Politik in der Welt ankommt und was, wie Acta, besser anders liefe.

Die dafür nötige Breitenwirkung erreicht man über E-Mails. Vorgefertigte Eingaben kann jeder an maßgebliche Politiker senden. Mit dieser Art Schneeballsystem mischt Avaaz auch in sozialen Netzwerken mit. Kurznachrichten auf Twitter vermitteln, ähnlich Pegelstandsmeldungen, den Eindruck ständiger Erfolge. Ein großes Adreßfeld neben der Meldungsspalte lädt stets ein, mit Avaaz über E-Mail in Kontakt zu bleiben. Hunderttausende Adressen, Munition und Glaubwürdigkeitsbeweis schlechthin im Kampagnengeschäft, kommen so zusammen. Für die finanzielle Ausstattung sorgen die Mitglieder – Spendenformulare reichen bis zu 5.000 Euro. Die Obergrenze soll Unabhängigkeit schaffen.

Als weitvernetzte Gruppe hat die Avaaz-Familie eine Lenkungsfunktion für andere Nichtregierungsorganisationen. Selbst unverbundene Kampagnen geben neue politische Gesamtrichtungen vor. Daran kommen die Medien nicht vorbei und wirken als Verstärker. Zum Klimagipfel in Kopenhagen widmete das ZDF Avaaz einen eigenen Beitrag. Patel stellte darin seine „schnelle Eingreiftruppe“ vor und erklärte deren Zweck: „Druck ausüben“ auf Länder, „die beim Gipfel die Führung übernehmen“, und zwar „hier und in der ganzen Welt“.

Bei soviel Aktionismus bleibt Kritik nicht aus. Es ist ein Netz für Menschen, die für echte politische Aktionen zu antriebsschwach sind, aber Gutes tun wollen, argwöhnen Kritiker. Der Einsatz sei „sprunghaft und unverbindlich“, kritisiert der Spiegel. Blogger fürchten teils einen neuen US-Imperialismus.

Im Kreis linker Aktionsbewegungen ist Avaaz ohnehin nicht gern gesehen. Die „Projektwerkstatt“ wirft dem Netz 2009 und 2010 eine sinnlose Unterschriftenaktion gegen genveränderte Pflanzen vor: „Die von Avaaz behauptete Möglichkeit einer schriftlichen Eingabe gab es gar nicht. Sie war aber ein guter Trick, um an die Adressen der Menschen zu kommen.“ Die Rote Fahne stört, daß Avaaz, „maßgeblich von George Soros finanziert wird, einem der skrupellosesten Spekulanten und Hedgefondsmanager des internationalen Finanzkapitals“, ein „antikommunistisches Spinnennetz auswirft“.

Eines immerhin hat das Netzwerk bewiesen: Wann immer in Medien von der schwer zu greifenden „internationalen Gemeinschaft“ im Rahmen von Eingriffen des Westens in Krisenregionen die Rede ist, läßt Avaaz die Existenz einer solchen, von echten Menschen getragenen Gemeinschaft möglich erscheinen.

 www.avaaz.org

 

„Kesseltreiben gegen Syrien“

„Angeblich 28 Kinder in Homs massakriert“ (ORF), „Assad-Truppen sollen Referendumsgegner gezielt erschossen haben“ (Spiegel online), „Al-Kaida unterwandert angeblich Syriens Opposition“ (Zeit online). Wenn es um die Beurteilung der Lage in Syrien geht, stehen die Medien meist im Regen. Oft verlassen sie sich daher auf Angaben der Netzwerker von Avaaz, auf Informationen der Rebellen, Schilderungen der Nachrichtenportale von Al-Jazeera (Katar) oder Al-Arabiya (Vereinigte Arabische Emirate). Das Bild ist verschwommen, das Urteil einhellig: Assad muß weg. Dagegen sieht Nahostexperte Peter Scholl-Latour ein „Kesseltreiben gegen Syrien“ und kritisiert  gegenüber dem Deutschlandradio die „völlige Irreführung der öffentlichen Meinung“. Es gehe nicht um Syrien, sondern um den Iran.

Fotos: Avaaz-Aktion am Rande einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates in New York (Januar 2012): Übergabe von 600.000 Stimmen gegen Assad; Avaaz-Kampf für Rettung „unseres Planeten“: „Klima-Aliens“ auf der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009

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