© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Der Schock sitzt tief
Ein Jahr nach der Tsunami-Katastrophe hat sich Japan noch immer nicht erholt / Schneller Atomausstieg?
Albrecht Rothacher

Ein Jahr nach der Dreifachkatastrophe vom 11. März vergangenen Jahres ist Japan nicht mehr das gleiche Land. Die Regierung von Naoto Kan wurde wegen ihres schlechten Krisenmanagements gestürzt. Der konkursreife Energiekonzern und Regionalmonopolist Tepco (JF 42/11) steht vor der Verstaatlichung. 52 von 54 AKWs sind derzeit weiterhin abgeschaltet.

Die katastrophenbedingten Produktionsausfälle (Toyota stürzte beispielsweise vom Spitzenplatz auf Rang drei der weltgrößten Autobauer) und die erhöhten Importe von Rohöl und teurem Flüssiggas für die Wärmekraftwerke haben die japanische Handelsbilanz erstmals seit Jahrzehnten in die roten Zahlen rutschen lassen. Die Strompreise in Tokio wurden um 17 Prozent erhöht. Beleuchtungen, Klima- und Heizanlagen wurden abgeschaltet oder zumindest gedrosselt, und der Energieverbrauch so um gut zehn Prozent vermindert.

Dennoch befürchtet die Industrie, vor allem in der Kansai-Region, die zu 60 Prozent vom Atomstrom abhängig war, neben steigenden Energiepreisen, erneute Stromausfälle im Sommer. Hinzu kommt der hohe Kurs der Fluchtwährung Yen. Firmen wie Sumitomo Electric, Sakura Color und Mitsui Mining oder der Internetanbieter Gree haben angekündigt, Produktion und Dienstleistungen ins asiatische Ausland zu verlagern. Noch im Vorjahr gültige Pläne, durch 40 neue AKWs den CO2-Ausstoß zu vermindern, um so die UN-Klimaziele einzuhalten, sind Makulatur.

60 Prozent der Japaner lehnen Atomstrom ab, vor Fukushima waren es 20 Prozent. Die Politik hat sich daher auf einen graduellen Atomausstieg geeinigt. Weil örtliche AKWs nach periodischen Wartungsarbeiten erst mit Genehmigung der Lokalparlamente wieder ans Netz dürfen – und diese Zustimmung trotz Appellen von Wirtschaft und nationaler Politik nirgendwo zu haben ist – könnte der faktische Atomausstieg sogar viel schneller erfolgen, nämlich schon Ende April, wenn die letzten beiden arbeitenden AKWs wegen der Routinewartung vom Netz müssen.

Indes ist in den drei Katastrophenreaktoren von Fukushima Daiichi nach der Kernschmelze am 15. März zumindest die Kaltabschaltung gelungen. Laut Behördenangaben kann keine unkontrollierte Kettenreaktion mehr erfolgen. Radioaktivität ist seither – außer 400 Litern Kühlwasser aus einem Mauerriß – nicht mehr ausgetreten. Binnen drei Jahrzehnten kann nun die völlige Stillegung erfolgen, nach weiteren zehn Jahren der Abbruch der Unglücksreaktoren.

Selten erwähnt wird, daß die in den siebziger Jahren erbauten Fukushima-Meiler auf Entwürfen des US-Konzerns General Electric (GE) aus den sechziger Jahren beruhen. Damals baute Japan, das der Ölkrise entrinnen wollte, ausländische Reaktortypen nach. Dummerweise setzte man das AKW, das gegen nord­amerikanische Hurrikans gewappnet war, an eine tsunamigefährdete Küste. Für Sechs-Meter-Sturmfluten war man gerüstet. Spätere Studien, daß Tsunamiwellen höher sein können, wurden von Tepco ignoriert, zumal das AKW vor der Abschaltung stand.

Wie prognostiziert waren die Wellen am 11. März 16 Meter hoch, sie schwemmten die ungeschützte Kühlanlage ins Meer und legten die Notstromaggregate lahm. Nun rächte sich, daß die Konzernbürokratie für „undenkbare“ Katastrophen keine Vorsorge getroffen hatte. Man glaubte, daß jeder Stromausfall nach wenigen Stunden behoben sein würde. Das war nach dem schweren Erdbeben jedoch nicht der Fall. Bis die schweren Ersatzaggregate und anderes Rettungsgerät über die verstopften und zerstörten Straßen aus Tokio herangebracht werden konnten, verging weitere Zeit, so daß erst mit 14 Stunden Verspätung die Kühlung wieder versucht werden konnte – doch da war die Kernschmelze bereits in Gang.

Beim Nachbarkraftwerk Fukushima Daini dagegen hatte ein Dieselgenerator verläßlich für Kühlung gesorgt. Dort war die Katastrophe trotz des Erdbebens der Stärke 9 und des Tsunami ausgeblieben. So konnte der schlimmste Fall, die unkontrollierte Kernschmelze in sechs Reaktoren mit weitgehenden Verstrahlungen – und die möglicherweise nötige Evakuierung von 30 Millionen Einwohnern des Großraums Tokio und der völlige Zusammenbruchs der japanischen Wirtschaft – knapp verhindert werden. Zu den Tepco-Schlampereien gehörte aber auch, daß die ausgebrannten Brennstäbe ohne Schutz offen neben den AKWs gelagert wurden. Zudem gab es für den erdbebenbedingten Ausfall des vorgesehenen regionalen Krisenzentrums keinen Ersatz. Aus der Krisenregion konnten nur noch handschriftliche Vermerke per Fax an das Büro des japanischen Premiers geschickt werden. Doch auch der hatte kein echtes Krisenzentrum – Naoto Kan überließ das operative Rettungsgeschäft den inkompetenten Geheimniskrämern von Tepco.

Tatsächlich mußten aus dem 30-Kilometer-Umkreis um Fukushima und der noch viel weiter nach Nordwesten reichenden Verstrahlungszone etwa 100.000 Menschen evakuiert werden – zusätzlich zu den 230.000 überlebenden Tsunami-Opfern. Wenn sie nicht bei Verwandten untergekommen oder längst in andere Teile Japans abgewandert sind, leben sie noch immer in Notwohnungen, die Containerunterkünften von Bauarbeitern entsprechen.

Die meisten Evakuierten sind weiterhin ohne Arbeit, weil die staatlichen Wiederaufbauprogramme in Höhe von umgerechnet 180 Milliarden Euro erst in diesem Jahr beschlossen wurden und langsam in Gang kommen. Trotz der teuren Maßnahmen ist es zweifelhaft, ob jene ohnehin überalterten und von der Abwanderung der Jugend bedrohten Kleinstädte und Fischerdörfer je wieder lebendig werden. Dazu sind auch noch 23 Millionen Tonnen an Trümmerbergen abzutransportieren und zu verfüllen – und niemand will sie haben.

 

Streit um Fukushima-Folgen

Neben dem nicht zu beziffernden Leid der direkt betroffenen Anwohner der Evakuierungszone um Fuku­shima hat die Reaktorkatastrophe vom März 2011 auch milliardenschwere finanzielle Lasten verursacht. Nach Berechnungen einer Untersuchungskommission der japanischen Regierung muß der AKW-Betreiber Tepco umgerechnet etwa 38,4 Milliarden Euro an Entschädigungszahlungen entrichten. Nicht enthalten in dieser Summe sind Langzeitschäden durch radioaktive Verstrahlung oder Dekontaminationsmaßnahmen. Sollten japanische Gerichte ausstehende Schadenersatzklagen zuungunsten von Tepco entscheiden, könnten sogar bis zu 75 Milliarden Euro fällig werden. Da Tepco aber nicht zahlungsfähig ist, wurde der Hilfsfonds für Fukushima-Geschädigte im Februar vom japanischen Staat auf 14,5 Milliarden Euro aufgestockt. Insgesamt sollen etwa 1,5 Millionen Japaner Zahlungen aus dem Entschädigungsfonds erhalten.

Fukushima-Informationsseite der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit: www.fukushima.grs.de

Foto: Strahlende AKW-Ruine in Fukushima Daiichi: 1,5 Millionen Japaner leiden unter den Katastrophenfolgen

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