© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Traurige Fanale für die Freiheit
Tibet: Tägliche Berichte über Selbstverbrennungen tibetischer Nonnen und Mönche setzen China unter Druck / Peking reagiert mit Zuckerbrot und Peitsche
Marc Zöllner

Losar, so nennen die Tibeter ihr traditionelles Neujahrsfest. Es ist ein wenig wie Weihnachten: Die Häuser und Klöster werden fein säuberlich geschmückt, man beschenkt seine Familie mit Kleidung, Speisen und allerlei Schmuck. Streitigkeiten zwischen den Nachbarn werden begraben. Fünfzehn Tage lang, so die Tradition, meiden die Feiernden harte Arbeit, halten Paraden zu Ehren des Dalai Lama ab und genießen die nun länger werdenden Tage auf der Hochebene am Rande des Himalaya. Ein Fest, weit über 1.400 Jahre alt und eigentlich der Höhepunkt des kulturellen Geschehens Tibets. Doch nicht in diesem Jahr.

Unruhen halten die südwestliche Provinz des Reiches der Mitte in Atem, seit März 2011 bereits. Beinahe wöchentlich führen neue Selbstverbrennungen tibetischer Nonnen und Mönche zu Schlagzeilen in den Medien, vor wenigen Tagen erst mit dem öffentlichen Suizid der 32jährigen Rinchen, einer vierfachen Mutter, welche in der Provinzhauptstadt Aba, nahe der sich auch das tibetische Kloster Kirti, eines der Zentren des Widerstandes gegen die chinesische Besatzungsmacht, befindet, mit dem Ruf nach einer „Rückkehr des Dalai Lama“ sowie „Freiheit für Tibet“ dem Flammentod zum Opfer fiel. Nur wenig später folgte ihr am 3. März die 20jährige Schülerin Tsering Kyi auf einem Markt im nördlich gelegenen tibetischen Kreis Machu in der chinesischen Provinz Gansu.

„Die Tibeter in Tibet sind geradezu gezwungen, das Neujahrsfest ausfallen zu lassen“, berichtet auch Kanyag Tsering der Nachrichtenagentur Phayul. „Wir möchten kein schwarzes Jahr loben, in welchem viele aus unseren Familien umkamen.“ Der mittlerweile im Exil lebende Mönch stammt ursprünglich aus dem Kloster Kirti. Während einer antichinesischen Demonstration verübten Sicherheitskräfte dort am 16. März 2008 ein Massaker unter den anwesenden Protestlern, in dessen Verlauf sechzehn Menschen erschossen wurden. Drei Jahre später verbrannte sich mit dem ebenfalls aus Kirti stammenden Mönch Phuntsog der erste von mittlerweile rund dreißig Tibetern an gleicher Stelle, ein makaberes Fanal, welches die Augen der Weltgemeinschaft einmal mehr auf die leidgeprüfte Provinz auf dem Dach der Welt richtete. An der Unterdrückung durch Peking hat sich seitdem jedoch nichts geändert.

Gegenteilig versucht China die anhaltenden Proteste als „Machwerk weniger krimineller Elemente aus dem Ausland“ herunterzuspielen, so ein hoher chinesischer Beamter, und auch die Bevölkerung soll durch Geschenke aus dem Staatssäckel gerade am Losar-Fest zum Feiern animiert werden.

Gleichzeitig mit dem Versprechen des derzeit in Peking tagenden Volkskongresses, in den kommenden vier Jahren rund neun Milliarden Euro in die tibetische Landwirtschaft und Infrastruktur zu investieren, verteilte die Kommunistische Partei Tibets Einkaufsgutscheine im Wert von je 90 Euro an die 37.000 ärmsten Familien der Provinz. Trotz alledem würden „99 Prozent der Tibeter kein Losar feiern wollen“, so Kanyag Tsering. „Auch wenn viele von uns fürchten, deswegen in politische Haftung genommen zu werden.“ Man baue stattdessen auf „Hungerstreiks und Nachtwachen“, um im Kampf um Tibets Souveränität den Machthabern aus Peking weiter zu trotzen.

Chinas Ansprüche auf das seit 1950 besetzte Tibet werden vor allem aus geopolitischen und ökonomischen Gründen erhoben. Mit 2,5 Millionen Quadratkilometern Fläche stellen die Provinzen zwischen dem Himalaya im Süden und dem Kunlun Shan im Norden fast ein Viertel der Gesamtfläche der Volksrepublik dar. Hinzu kommt der Rohstoffreichtum des Daches der Welt: Rund die Hälfte der chinesischen Vorkommen an Kupfer und Blei, so schätzen Experten, ruhen allein unter dem im Mittel auf 4.500 Metern über dem Meeresspiegel ruhenden Plateau Tibets. Ressourcen, deren Abbau sich für die chinesischen Industrien insbesondere angesichts der steigenden Weltmarktpreise für Metalle als von lebensnotwendiger Wichtigkeit darstellen könnte.

Neben großen Lagerstätten für Erdöl, Gold und Aluminium spielen jedoch besonders Tibets Wasservorräte eine bedeutende Rolle für die chinesische Grundversorgung. Mit Vorräten von rund 400 Milliarden Kubikmetern gilt Tibet als Süßwasserreservoir Asiens, allein 30 Prozent des chinesischen Wasserhaushaltes werden durch die Gletscher der Hochgebirge des äußersten Westens gespeist.

Rund zwanzig der größten Ströme des Fernen Ostens entspringen dem Zentralmassiv, unter ihnen mit dem Huanghe sowie dem Jangtsekiang nach dem Nil und dem Amazonas die zwei längsten Flüsse der Welt. Ströme, die nicht nur für den Binnenverkehr und die Versorgung der Städte der Ostküste Chinas an Bedeutung gewinnen, sondern insbesondere für deren Energieversorgung.

Allein am Huanghe befinden sich neun der größten Staudämme des Reichs der Mitte, welche rund zehn Prozent der Energieversorgung des Landes ausmachen. Mit einer Jahreserzeugung von über 84 Terawattstunden gilt die Drei-Schluchten-Talsperre des Jangtsekiang als weltweit größte ihrer Art. Eine exterritoriale Kontrolle seiner Zuläufe wäre für China fatal, wirtschaftlich wie infrastrukturell würde es sich geradewegs in die partielle Abhängigkeit eines unabhängigen Tibet begeben. Zumal Peking gerade im Hinblick auf den Ausbau des Süd-Nord-Wassertransfers noch große Pläne hegt: Mit dem Bau einer bis zu 1.200 Kilometer langen Reihung von Kanälen plant die Kommunistische Partei, bis 2050 den Wassermangel der nördlichen Provinzen zwischen der Hauptstadt und der Provinz der Inneren Mongolei mittels Frischwasser aus dem Jangtsekiang zu beseitigen.

Für Peking gilt Tibet auch als Faustpfand im regionalen Machtgefüge, nicht nur, was den Handel sowie den Export von Waren und kulturellen Gütern betrifft. Auch Chinas südliche Nachbarn sind abhängig vom Wasserreichtum des widerspenstigen Plateaus: mit dem Brahmaputra Indien und Bangladesch, mit dem Irrawaddy der kommunistische Bruderstaat Burma (Myanmar), mit dem Mekong schlußendlich die komplette indochinesische Halbinsel rund um Laos, Vietnam, Thailand und Kambodscha. Eine Entlassung Tibets in die Unabhängigkeit würde somit nicht nur Chinas Wirtschaft existentiell bedrohen, Peking stünde als Hegemon Ostasiens vor einem irreparablen Machtverlust. Sein Einfluß auf bisherige Vasallenstaaten wie Nordkorea, Myanmar und die Mongolei wäre unwiderruflich verloschen.

Schlimmer noch könnte die Wiedererlangung der Souveränität Tibets eine fatale Signalwirkung auf andere Unruheprovinzen besitzen. Zwar ist Chinas Bevölkerung in sich recht homogen, rund 93 Prozent der Bevölkerung besteht aus ethnischen Han-Chinesen, die restlichen sieben Prozent der ethnischen Minderheiten besiedeln jedoch beinahe 60 Prozent der gesamten Landmasse Chinas. Fällt Tibet, könnte sich hieraus ein Dominoeffekt ergeben. Denn auch in der nordwestlichen Provinz Xinjiang streben die mehrheitlich muslimisch geprägten Uiguren, ein mit den Völkern Zentralasiens verwandtes Turkvolk, nach Unabhängigkeit.

Gebiete wie die Innere Mongolei sowie die Mandschurei könnten sich dieser Bestrebung anschließen, und auch unter den Li, einer auf der südlichsten Insel Hainan ansässigen Minderheit, erheben sich immer wieder Stimmen nach mehr Autonomie von Peking. Eine Wiedervereinigung mit dem seit dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges 1949 de facto unabhängigen Inselstaat Taiwan wäre überdies undenkbar.

Daß diese Planspiele nicht aus der Luft gegriffen sind, beweisen die neuesten Unruhen in Xinjiang. Sich die Proteste in Tibet zum Beispiel nehmend, starben dort vergangene Woche über 20 Menschen bei Zusammenstößen mit schwer bewaffneten Sicherheitskräften sowie ansässigen Han-Chinesen. Doch während die Uiguren vor allem auf Gewalt setzen, versuchen sich die Tibeter noch immer im Symbol des friedlichen Protestes.

Nicht nur in Tibet, auch im angrenzenden Indien oder Nepal gehen mittlerweile Tausende der dort exilierten tibetischen Flüchtlinge Woche für Woche auf die Straße, um gegen die Unterdrückung ihrer Landsleute zu protestieren. Doch auch in Kathmandu wächst der Druck auf die Separatisten.

„Wir werden auf unserem Boden keinerlei antichinesische Stimmungsmache mehr zulassen“, verkündete Nepals Premierminister Baburam Bhattarai unlängst der Presse. Und natürlich sei Chinas größtes Interesse in Nepal dessen exiltibetische Gemeinde.

Sich trotz einer traditionell sehr engen Bindung sowohl an Tibet als auch an Indien von der Pekinger Führung kaufen zu lassen, läßt sich der kleine Himalayastaat mit seinen 30 Millionen Einwohnern nunmehr teuer bezahlen, etwa mit dem Ausbau einer Eisenbahnlinie sowie mit der Verdopplung der jährlichen Entwicklungshilfen aus China. Vor dem langen Arm Pekings sind die Tibeter wohl nirgends ganz sicher.

Foto: Exil-Tibeter demonstrieren (Februar 2012) in Indien für die Freiheit: „Tibet ist kein Teil Chinas“

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