© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

„Typische Jasager“
Direkte Demokratie: Die erste Veranstaltung des „Dialogs über Deutschland“ mit der Bundeskanzlerin spiegelt die Diskussion im Internet kaum wider
Lion Edler

Für den ersten Auftritt Angela Merkels beim „Dialog über Deutschland“ hatte das Berliner Kanzleramt eine repräsentative Adresse ausgewählt. Im traditionsreichen Erfurter Kaisersaal stellte sich die Bundeskanzlerin in der vergangenen Woche beim ersten „Zukunftsdialog“ den Fragen von hundert Bürgern.

Doch anders als im Internet, dem eigentlichen Schauplatz des Mitmachprojekts „Dialog über Deutschland“ (JF 7/12), spielen brisante Themen wie etwa die Rolle des Islam in der Debatte keine Rolle. Dabei wurden von den hundert Bürgern in der Landeshauptstadt Thüringens fünfzig angeblich repräsentativ ausgewählt, weitere fünfzig wurden für ihr soziales Engagement oder eingereichte Ideen belohnt. Doch das Publikum vermittelt einen anderen Eindruck. Die hundert Auserwählen seien „typische Jasager“ gewesen, schimpft denn auch ein Nutzer der Internetseite des Dialogs.

Dabei soll das vom Kanzleramt organisierte Internetprojekt zusammen mit den realen Diskussionsveranstaltungen mit der Kanzlerin den Klagen über eine wachsende Kluft zwischen Bürgern und Politik entgegentreten. Merkel lädt die Bürger daher im Internet ein, ihr ihre Ideen für die Entwicklung Deutschlands in den nächsten Jahren zukommen zu lassen. Bis zum 15. April können die Bürger auf der Internetseite noch ihre Vorschläge einreichen, wobei diese sich in eine der drei vorgegebenen Leitfragen einordnen lassen müssen: „Wie wollen wir zusammenleben?“, „Wovon wollen wir leben?“ und „Wie wollen wir lernen?“ Das Publikum kann dann ähnlich wie beim Facebook-Prinzip die einzelnen Vorschläge mit einer Stimme goutieren, um die beliebtesten Vorschläge zu ermitteln. Zugleich wurde eine „Expertengruppe“ mit 120 Vertretern aus Wissenschaft und Praxis gebildet, die in 18 nichtöffentlichen Arbeitsgruppen diskutiert und am Ende zehn Vorschläge auswählen soll, die der Kanzlerin von den Verfassern persönlich präsentiert werden sollen. Im September will die Kanzlerin die Verfasser der zehn beliebtesten Beiträge einladen und deren Vorschläge mit ihnen besprechen. „Zehn bis 20 praktikable Dinge“ sollen zudem als Gesetze umgesetzt werden. Außerdem soll ein Buchprojekt die Vorschläge dokumentieren. Als Kosten für die gesamte Aktion werden etwa 1,5 Millionen Euro veranschlagt, was bereits Kritik provozierte.

Falls die Kanzlerin die Forderungen auf der Internetseite wirklich ernst nehmen sollte, muß sie sich indessen voraussichtlich mit „heißen Eisen“ befassen. Denn die Liste der Vorschläge wird angeführt von kontroversen Themen: Auf Platz eins liegt noch immer der Antrag „Offene Diskussion über den Islam“. Dieser bereits bis Dienstag von über 82.000 Stimmen unterstützte und mit über 4.000 Beiträgen diskutierte Antrag beklagt, die Islamkritik werde „pathologisiert und kriminalisiert“.

Relativ knapp dahinter folgt der Antrag „Cannabis legalisieren = Markt für Erwachsene regulieren!“ mit über 79.000 Unterstützern. Dieser fordert für Cannabis einen „regulierten Markt mit Jugend- und Verbraucherschutz“. Ein Beitrag, der sich gegen die Legalisierung von Drogen ausspricht, kommt dagegen auf ganze 735 Stimmen.

Auch die Geschichtspolitik hat ihren Platz. Der Antrag auf Platz drei „Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern“ fand bislang über 64.000 Unterstützer. Weitere populäre Anträge fordern eine Liberalisierung des Waffenrechts, die Abschaffung der GEZ-Gebühren sowie ein Verbot der NPD und des islamkritischen Internetportals PI-News.

Ob die Kanzlerin bei diesen aus Sicht der etablierten Politik zumeist „exotischen“ Themen wirklich ihr Versprechen einhalten wird, die Autoren der zehn beliebtesten Beiträge zu treffen? Spiegel Online vermutete bereits, die Kanzlerin dürfte „nicht besonders erpicht darauf sein, sich im September mit Menschen ablichten zu lassen, die für lockerere Waffengesetze eintreten, den Haschisch-Schwarzmarkt freigeben wollen oder vor der Islamisierung Deutschlands warnen“.

www.dialog-ueber-deutschland.de

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