© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Daß die großen Fernsehserien das „neue Kino“ sind, ist wahrscheinlich übertrieben. Die dahinterstehende Planung und die perfekte Ausführung machen allerdings deutlich, daß man es mit einer veränderten Qualität von TV-Unterhaltung zu tun hat. Vorbei sind die Zeiten der Einheitsware, als schon die billige Machart der Massenproduktion abschreckte oder die Dürftigkeit der Plots. Was heute mit einem Aufwand gedreht wird, der früher bestenfalls für Spielfilme denkbar war, setzt auf Differenzierung, auch auf die Auseinanderentwicklung von Sehgewohnheiten: Das Publikum, das Sat 1 oder RTL bedienen, wird sich nur ausnahmsweise bei Pro7 finden, selten bei ZDF Neo, nie bei Arte.

Einsicht, andeutungsweise: „Wir können nicht genau erkennen, wo unser blinder Fleck heute ist. Ich habe mal probeweise in einem juristischen Seminar gesagt, stellen Sie sich vor, daß in zwanzig Jahren die Gesellschaft zu dem Ergebnis kommt, daß die Abtreibung Mord war. Dann hängen wir alle drin. Auch ich als Kommentator des Artikels 2 Absatz 2 des Grundgesetzes habe zwar solche Andeutungen in der Kommentierung gemacht, das könnte sich als Unrecht erweisen, aber letztlich habe ich es nicht als Unrecht hingestellt.“ (Udo di Fabio, Bundesverfassungsrichter i. R., laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Februar 2012)

Es ist nicht nur der Begriff „heimlicher Lehrplan“ verschwunden, sondern auch die damit verbundene Form der Medienbeobachtung und -kritik. Vielleicht hat das aber auch seinen Vorteil, insofern als bei den ambitionierten Serien, die die Öffentlich-Rechtlichen in ihren Beiprogrammen verstecken, niemand nach der „hidden agenda“ fragt: Was es etwa mit dem radikalpessimistischen Menschenbild in „Hunter“ auf sich hat, mit dem Demokratieverständnis (auch und gerade dem linken oder liberalen Demokratieverständnis) nach Maßgabe von „Gefährliche Seilschaften“ oder mit der Auffassung von der „Neuen Weltordnung“, die die Serie „Spooks“ (umgangssprachliches Englisch für „Spione“) vermittelt. Letztere ist unter den Ausnahmen eine Ausnahme, insofern sie von einer unabhängigen Firma seit mehr als zehn Jahren für die BBC produziert wird; mittlerweile ist die achte Staffel in Deutschland zu sehen. Hielt man sich anfangs bei den Filmen, deren Helden die Männer und Frauen einer fiktiven Abteilung für Terrorismusbekämpfung des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 sind, an die Vorgaben Politischer Korrektheit, ist man doch bald zu gezielter Regelverletzung übergegangen und scheint damit außerordentlich erfolgreich zu sein: im Kern geht es einem verlorenen Haufen nur noch um die Verteidigung des Vaterlandes gegen die Inkompetenz der korrupten Politiker, ganz gleich welcher Couleur, die Machenschaften der großen Konzerne, die Radikalen, deren ethnische Brückenköpfe man im Land hat, die Versuche des organisierten Verbrechens, die Wirtschaft mit oder ohne Unterstützung fremder Agenten zu unterwandern, und vor allem gegen die USA, die unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen den Terror“ eine zynische Interessenpolitik verfolgen und bereit sind, jeden Alliierten über die Klinge springen zu lassen, wenn das ihren politischen und/oder ökonomischen Interessen dienlich scheint.

Im guten Fall ist der Umgang mit Höherrangigen geregelt, der mit Nachrangigen ebenfalls, das Problem ist immer der Umgang mit Gleichrangigen.

Bildungsbericht in loser Folge XVIII: „Die Eltern der Jungen machen es nicht anders als die Jungen selbst. Sie rechnen es uns nicht an, daß sie die Sorge um ihre Kinder auf unsere Schultern abgelegt haben. Sie selbst gehen zu Hause ruhig ihren Geschäften nach. Denn der ganze Bereich der Erziehung und des Unterrichts bei einem Jungen ist voller Unruhe und Gefahr. Und wenn sie uns mal ein klein wenig Lohn gegeben haben, wie halten sie uns dann ihre Wohltat vor Augen! Hat der Junge etwas Rechtes geleistet, so wird vom Lob dem Lehrer nichts zugeschrieben. Hat er sich etwas zuschulden kommen lassen, wird der Lehrer angeklagt. Wir sind weit übler dran als alle anderen Menschen, weil wir die schwersten Mühen auf uns nehmen müssen und doch unser Leben in äußerster Armut nur eben fristen können; dabei sind wir allen Arten von Beschimpfungen ausgesetzt. Ich bin überzeugt, keiner von euch hat ein so eisernes Herz, daß er bei dieser Betrachtung nicht von tiefem Mitleid mit uns erfaßt wird. Es gibt noch weit mehr Mißhelligkeiten, doch ich bin durch die Aufzählung schon zu erschöpft und meine Redezeit verbietet mir weitere Ausführungen.“ Philipp Melanchthon (1497–1560), deutscher Reformator, in einer Rede über die Lehrer.

„Wenn Leute wie Sie so weitermachen, dann wird es kein ‘auf lange Sicht’ geben, für keinen von uns.“ (Sir Harry Pearce, Spooks, Staffel 3, Folge 6)

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 16. März in der JF-Ausgabe 12/12.

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