© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Mitten aus dem prallen Leben
Dichterische Zerstörungswut: John Irving, der jetzt siebzig wird, leidet mit seinen Geschöpfen
Silke Lührmann

Beschaulich ist sie nicht und heile schon gar nicht, die Welt, wie Garps Schöpfer sie sieht. In John Irvings bislang zwölf Romanen saust und braust das pralle Leben. Inzest, Kindesmißbrauch, Vergewaltigung, Abtreibung, Potenzstörungen, Prostitution und Ehebruch – keine Regung der menschlichen Natur ist ihm fremd, kaum ein Stoff so brisant, daß er ihn nicht mit unverwechselbarem Gusto anpacken würde. Eine seiner sympathischsten Heldinnen ist Roberta in „Garp und wie er die Welt sah“ (1978), die vor ihrer Geschlechtsumwandlung ein muskelbepackter American-Football-Star war.

Voller Zeter und Mordio, voller Gram und Ingrimm, voller Komik und Tragik, voller haarsträubender Unfälle und Zufälle: das fiktive Universum eines fulminanten Geschichtenerzählers, der sich dabei ausdrücklich auf die viktorianischen Großmeister beruft, auf Vorbilder wie Charles Dickens oder Thomas Hardy. Von letzterem hat er gelernt, daß tragische Ereignisse – wenn nicht im Leben, so doch im Roman – ihre Schatten vorauswerfen; von ersterem, daß kein noch so tragisches Ereignis jeglicher sprachlichen Komik entbehrt.

Irving ist beileibe kein Moralist, aber er ist ein zutiefst moralischer Autor, ein Humanist, dessen dichterische Zerstörungswut und Schaffenskraft seit jeher im Konflikt liegen mit der Sorge, seinen Protagonisten ein menschenwürdiges Dasein, womöglich gar ein glückliches Ende stiften zu wollen, wie es ihm selber vor fünf Jahren nach einer erfolgreichen Krebsoperation vergönnt war. Das aber lassen weder die Konventionen des Genres noch die Verantwortung vor dem Leser zu. So bleibt dem Schriftsteller nur, an den gewaltsamen Verstümmelungen, gebrochenen Herzen, schmerzlich vermißten Körper- und Elternteilen seiner Geschöpfe mitzuleiden. Nicht umsonst hieß Irvings Lehrmeister am Iowa Writers’ Workshop Kurt Vonnegut, der – mehr noch als seine Zeitgenossen Joseph Heller und Thomas Pynchon – den schwarzen Humor in die amerikanische Literatur brachte, nachdem sie sich über hundert Jahre lang allzu ernst genommen hatte.

„Gottes Werk und Teufels Beiwerk“, so der deutsche Titel eines seiner schönsten Bücher (1985), bringt dieses Schöpfungsprinzip und diese Weltsicht (die nur im wortwörtlichen, keinesfalls im ideologischen Sinn „Welt-Anschauung“ ist) recht treffend auf den Punkt. Wenn überhaupt, ist Irving ein US-Liberaler, im besten wie im schlimmsten Sinn. Bei aller empathischen Kompetenz pflegt er doch den einigermaßen verklärten Rückblick eines Satten und Erfolgsverwöhnten auf das amerikanische Jahrhundert, aus dessen Warte sich die prekären Lebenswelten weniger privilegierter Mitmenschen als pittoresk und putzig darstellen. John Wheelwright in „Owen Meany“ (1989) und Danny Angel in „Letzte Nacht in Twisted River“ (2009) erleben aus dem kanadischen Exil mit wortgewandter, deshalb nicht weniger wehrloser Wut, wie ihr Land einen Krieg nach dem anderen mit Lügenpropaganda rechtfertigt; Irving selbst entblödete sich dennoch seinerzeit nicht, gegenüber europäischen Kritikern die Intervention zur „Befreiung Kuwaits“ gutzuheißen.

Seine größten – was nicht heißen muß: besten – Werke sind Bildungsromane im altmodischen Sinn, deren autobiographische Elemente er grotesk bis zur Kenntlichkeit verfremdet: die Kindheit in Neuengland; die Schulzeit an der Phillips Exeter Academy in New Hampshire; die Abenteuer in Wien; die akademische und/oder literarische Laufbahn; die Leidenschaft für den Ringkampf, der durchaus nicht nur als Metapher für das Ringen mit dem Schicksal, das Hadern mit Gott und der Welt gemeint ist; letzterdings auch die Traumfabrik Hollywood, wo Irving auch als Drehbuchautor Ruhm und Ehren in Gestalt eines Oscars erwarb.

Selbst die bizarre Zeugung des T. S. Garp, die zugleich die Geburtsstunde des Beststellerautors John Irving war, beruht sozusagen auf einem wahren Hintergrund: einer dominanten Mutter, die ihm den leiblichen Vater vorenthielt, so daß Irving ihn erfinden mußte – als im Sterben liegenden Soldaten. Erst als Erwachsener las er die Briefe des Vaters, der 1943 als Pilot der US-Luftwaffe über Burma abgeschossen wurde, aus verschiedenen Krankenhäusern in Indien und China – und machte prompt in „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ eine neue Geschichte daraus. Weitere zwanzig Jahre später veröffentlichte er mit „Bis ich dich finde“ (2005) einen Roman, der ganz der epischen Suche eines Heranwachsenden nach dem Vater gewidmet ist.

Die Leitmotive, die seine Romane durchziehen, sind wie Beschwörungsformeln wider die Ohnmacht des Wortes, die Wirklichkeit einem gestalterischen Willen zu unterwerfen. Die Kunst und Künstlichkeit dieser Art von magischem Denken hat er im Titelessay seiner Sammlung „Rettungsversuch für Piggy Sneed“ eindrücklich dargestellt.

Wer jetzt anläßlich seines 70. Geburtstags am 2. März endlich den Einstieg in Irvings Œuvre sucht, sollte – je nach Geschmack und Temperament – entweder mit der Sturm-und-Drang-Phase von „Laßt die Bären los!“ (1968) über „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ (1972) und „Eine Mittelgewichts-Ehe“ (1974) anfangen oder mit den saftigeren Werken des gereiften Mannes, dem auch über lange Strecken der Atem nicht ausgeht: „Garp“, „Das Hotel New Hampshire“ (1981), „Gottes Werk“ und „Owen Meany“.

Sämtliche Romane liegen in kompetenten bis kongenialen deutschen Übersetzungen vor; die vier zuletzt erwähnten sind auch mehr oder weniger erfolgreich verfilmt worden. Neben Lasse Hallströms vielfach ausgezeichnetem „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ (1999) ist „Die Tür der Versuchung“ (2005) mit Jeff Bridges und Kim Basinger in den Hauptrollen, eine Adaption des ersten Teils von „Witwe für ein Jahr“ (1998), die wohl am glücklichsten gelungene Filmversion eines Irving-Buches.

Der „neue Irving“ ist für Mai dieses Jahres unter dem Titel „In One Person“ angekündigt und wird, so ist Vorabrezensionen zu entnehmen, von einem bisexuellen Leben im Schatten der Aids-Epidemie erzählen. Beschaulich dürfte es auch diesmal nicht zugehen in der Welt, wie John Irving sie sieht.

Foto: Schriftsteller John Irving: Beschwörungsformeln wider die Ohnmacht des Wortes, die Wirklichkeit einem gestalterischen Willen zu unterwerfen

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