© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Die frühen Ahnen der Inka
Neueste Forschungen weisen nach, daß Hochkulturen in den Anden bereits vor 5.500 Jahren Spuren hinterließen
Wolfgang Kaufmann

Mesopotamien, Ägypten und Anatolien gelten gemeinhin als die Mutterländer der Zivilisation. Das ist allerdings schon insofern falsch, als wichtige Kulturtechniken wie Städtebau, Metallverarbeitung und Schriftgebrauch zuerst in Europa entwickelt wurden. Deshalb mußten sich die Althistoriker in letzter Zeit von nicht wenigen liebgewordenen Ansichten trennen. Verantwortlich für diesen Paradigmenwechsel waren die sensationellen neuen Funde auf dem Balkan und in der Südukraine, welche vom Primat der Donaukultur künden (JF 48/11).

Allerdings sorgte die Archäologie in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten für noch mehr Überraschungen, weshalb wir jetzt auch unser Bild von der Geschichte Lateinamerikas revidieren müssen. Aufgrund der in immer dichterer Folge gemachten Entdeckungen in Peru, Bolivien, Ecuador und Chile steht nunmehr fest, daß die zivilisatorische Entwicklung in dieser Region schon vor mindestens 5.500 Jahren begann. Das heißt, die 98 Jahre, in denen das Inkareich den nördlichen und mittleren Andenraum dominierte, waren nur der Endpunkt einer sehr viel längeren Entwicklung, in deren Verlauf immer wieder Spektakuläres entstand. Hierüber berichtet unter anderem das letzte Buch des leider kürzlich verstorbenen Wissenschaftsjournalisten Michael Zick, welches sowohl durch seine opulente Ausstattung mit Bildmaterial als auch durch eine kenntnisreiche Schilderung des aktuellen Forschungsstandes besticht.

Am Anfang der Geschichte der Hochkulturen Südamerikas stand nach heutigem Wissensstand ein namenloses Volk, welches die Kultanlage von Sechin Bajo errichtete. Mit dem Bau dieses dreißig Hektar großen Ritualkomplexes im Tal des Rio Casma wurde bereits um 3500 v. Chr. begonnen, also in etwa zeitgleich mit der Errichtung der ersten größeren Sakralbauten in Mesopotamien und anderen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens. Und es liegt durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen, daß noch archaischere Stätten zum Vorschein kommen – schließlich waren die Bewohner Südamerikas schon vor über 16.000 Jahren in der Lage, Siedlungen zu errichten, wie der überraschende Fund vom Monte Verde in Chile beweist, der nebenher zugleich auch noch die zählebige Theorie widerlegte, nach der die 11.500 Jahre alte, nordamerikanische Clovis-Kultur die älteste auf dem amerikanischen Doppelkontinent gewesen soll.

Immer noch mehr als vier Jahrtausende vor dem Erscheinen der Inka entstand dann im nordperuanischen Supe-Tal eine beeindruckende Stadt, welche heute als Caral bekannt ist und über deren Erbauer wir gleichermaßen nichts Näheres wissen. Das Besondere an dieser Metropole sind mehrere Pyramiden, deren größte keinen Vergleich mit der ersten ägyptischen Stufenpyramide in Sakkara scheuen muß. Zudem scheint ziemlich sicher, daß die Pyramiden von Caral teilweise früher aufgetürmt wurden als ihre Ebenbilder im Niltal.

Ebenfalls dem Reich der Superlative entstammt der Komplex von Sechin Alto, zu dem unter anderem eine Prozessionsstraße gehört, die so lang ist wie die Strecke vom Brandenburger Tor bis zum Berliner Dom. Ganz offenkundig befand sich hier im 2. Jahrtausend v. Chr. ein gewaltiges Staats- und Verwaltungszentrum, in dem ein Heer von Bürokraten und Priestern die Geschicke des nördlichen Andenraumes lenkte.

Wieder einige Jahrhunderte später entstand die Pyramide Huaca del Sol, mit der die Moche-Leute ihre Kultanlage nahe dem heutigen Trujillo krönten: dieser Koloß war ursprünglich nicht weniger als 345 Meter lang, 160 Meter breit und 62 Meter hoch. Warum die Moche hier allerdings an die 145 Millionen Lehmziegel übereinanderstapelten und so das bis dahin größte Bauwerk der Neuen Welt schufen, ist unbekannt, denn es gibt keine Schriftzeugnisse – nur kryptische Wandbilder, die drastische Gewaltszenen zeigen. Jedenfalls finden sich alleine in Nordperu 154 weitere Pyramiden von ähnlich beachtlicher Größe, zwischen denen Generationen von Raubgräbern ihr Unwesen getrieben und die Landschaft in ein pockennarbiges Etwas verwandelt haben.

Was von diesen „Huaqueros“ alles davongeschleppt und auf dem weltweiten Schwarzmarkt mit Antiquitäten verschleudert wurde, kann man in etwa ermessen, wenn man weiß, daß der japanische Archäologe Izumi Shimada schon aus einem einzigen unversehrt gebliebenen Grab 1,2 Tonnen wertvollster Beigaben, darunter mehrere tausend Artefakte aus purem Gold, bergen konnte.

Ab dem 10. Jahrhundert wiederum schwangen sich die Sican zu Herrschern über das Gebiet des heutigen Peru auf und sorgten dabei auch für einen letzten architektonischen Paukenschlag: Keine Pyramide der Welt hat eine größere Basislänge als die von den Sican errichtete Huaca Larga am Cerro La Raya, nämlich 700 Meter! Allerdings ist dieses beispiellose Bauwerk dabei, zu einem amorphen Schutthaufen zu zerfließen, was vor allem am öffentlichen Desinteresse sowie an Geldmangel und fehlenden archäologischen Kapazitäten liegt. Deshalb wurde bisher auch überhaupt nichts über die einstmalige Bestimmung der Mega-Ruine bekannt.

Rettungslos verloren sind des weiteren die Anlagen von Chan Chan, als deren Erbauer die Chimu gelten, also die unmittelbaren Vorgänger der Inka, welche ihren Nachfolgern zahlreiche kulturelle Errungenschaften wie beispielsweise ein perfektes Straßennetz hinterließen. Die am Pazifik gelegene Hauptstadt des Chimu-Imperiums erstreckt sich über sechs Quadratkilometer und beherbergte einstmals 60.000 Menschen, doch nun sorgen die ständigen Eskapaden von El Niño für einen unaufhaltsamen Zerfall der fragilen Lehmziegelarchitektur.

Bücher wie das von Zick dokumentieren also eine faszinierende und noch lange nicht hinreichend erforschte Epoche, deren Überbleibsel vielfach schon bald verschwunden sein werden. Daran ändert auch die Praxis der Unesco nichts, einige ausgewählte Ruinenstätten im Andenraum zum Weltkulturerbe zu erklären, zumal solche Vorzeigeobjekte eher zum Aufschwung des Tourismus als zu einer Intensivierung der Forschungstätigkeit führen.

Das ist vor allem deshalb bedauerlich, weil die Region noch unzählige Geheimnisse birgt. Woher beispielsweise kamen die hellhäutigen Chachapoya, die mysteriösen „Nebelkrieger“ im ewigfeuchten Norden Perus, von denen wir heute kaum mehr wissen, als daß es einmal 500.000 gewesen sein sollen und daß sie ihre Toten in schwindelerregender Höhe mitten in Felswänden bestatteten? Und wer schuf die rätselhaften Ringwallanlagen im amazonischen Tiefland entlang der brasilianisch-bolivianischen Grenze, welche erst kürzlich via Google Earth entdeckt wurden? Hier sollten doch nach einhelliger Meinung der Inka wie der Spanier und auch der modernen Wissenschaft nur „Barbaren“ bzw. einfache Jäger und Sammler gehaust haben! Ebenso bleibt ein Mysterium, was es mit dem künstlich überformten Berg Samaipata am Ostabhang der Anden auf sich hat; welche kultischen Funktionen hatte diese monumentale Steinskulptur, bevor die Inka sie nach ihren Vorstellungen umgestalteten – möglicherweise, um sie in eine Art von „Limes“ zu integrieren? Hier gibt es noch deutlich mehr Fragen als Antworten.

 

Zeittafel Peru

1534–1821

Kolonialherrschaft

1438–1534

Inka-Imperium

ca. 900–1438

Regionalkulturen: Sicán, Chimú, Chachapoya, Ica

600/800 bis ca. 900

Sicán und überregionale Kulturen: Huari, Tiwanaku

600/800 n. Chr.

Moche- und Sipán-Kultur in Nordperu

0

Nazca-Kultur in Südperu

1800–200 v. Chr.

Überregional: Chavìn-Kultur; in Südperu: Paracas

1800

Monumentalarchitektur

2100

Casma-Tal: Cerro Sechín Alto

2700

Caral

3500

Beginn der Großarchitektur in Sechín Bajo

4000

Bäuerliche Siedlungen im Süden: Pernil Alto, La Paloma

Michael Zick: Die rätselhaften Vorfahren der Inka. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2011, gebunden, 160 Seiten, Abbildungen, 34,95 Euro

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