© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Rettung aus der Kokosnuß
Parodistische Parabel über die Geschichte des 20. Jahrhunderts: Christian Krachts Roman „Imperium“
Thorsten Hinz

Die Romane von Christian Kracht werden stets mit besonderer Spannung erwartet. Sein Blick auf die Wirklichkeit ist eigenwillig. Konventionen und Erwartungsklischees ignoriert er getrost: Weder bedient er sie noch verletzt er sie mit vordergründiger Provokation. Beides hat er nicht nötig. Seiner Prosa merkt man eine Gelassenheit und Unabhängigkeit an, die aus der Welterfahrung des echten Weltenbummlers und wohl auch aus dem Bewußtsein materieller Unabhängigkeit kommt. Keiner seiner drei bisherigen Romane hat sich an Nebensächliches verloren: Wer den 1995 erschienenen Erstling „Faserland“ gelesen hat, konnte sich die nachfolgende Flut von Berlin- und anderen Befindlichkeitsbüchern ersparen: Alles, was danach noch kam, war hier vorweggenommen und dialektisch aufgehoben.

Der Held seines neuen Romans „Imperium“ hat ein historisches Vorbild: den 1875 in Nürnberg geborenen Vegetarier, Nudisten und Lebensreformer August Engelhardt, der die moderne Gesellschaft satt hatte und 1902 in die Kolonie Deutsch-Neuguinea auswanderte. Dort erwarb er eine Kokosnußfarm und gründete einen Sonnenorden, um die Welt aus dem Geist der exotischen Frucht und der Sonne zu erretten.

Die Geschichte dieses „einen Deutschen“ ist „stellvertretend“ gemeint, schreibt Kracht, „und wenn dabei manchmal Parallelen zu einem späteren deutschen Romantiker und Vegetarier ins Bewußtsein dringen, der vielleicht lieber bei seiner Staffelei geblieben wäre, so ist dies durchaus beabsichtigt und sinnigerweise, Verzeihung, in nuce auch kohärent“. Womit der Autor uns, in eleganter Verfremdung, zu Hitler geleitet hat.

Doch nicht nur zu ihm. Es gibt zahlreiche Anspielungen auf Geistesgrößen, die über die Erneuerung des Lebens durch die Kunst nachgedacht haben: Thomas Mann gibt sich die Ehre, ebenfalls der Indienfahrer und „Siddhartha“-Autor Hermann Hesse. Eine in Leinentücher gewandete Figur, mit der Engelhardt unter öffentlichem Spott durch das spätsommerliche München wandelt, erinnert an Stefan George. Im übrigen soll jeder Leser selber ausmessen, wieviel von Joseph Conrad, Herman Melville, Robert Louis Stevenson oder Paul Gauguin er im Buch vorfindet.

Der Begriff „Imperium“ schillert hier ironisch. Einmal bezieht er sich flüchtig auf das Dritte Reich, doch im Grunde konnte Deutschland kein Imperium herausbilden. Zwar sah es um 1900 so aus, „als würde es das Jahrhundert der Deutschen werden, das Jahrhundert, in dem Deutschland seinen rechtmäßigen Ehren- und Vorsitzplatz an der Weltentischrunde einnehmen würde“, wie es in parodistischer Anspielung auf den „Platz an der Sonne“ heißt, den Kanzler Bernhard von Bülow für Deutschland einforderte. Im Roman aber nimmt sich Deutschlands Rolle bescheiden aus. Kracht überwindet den Germano- beziehungsweise Schuld- und Hitlerzentrismus der deutschen Nachkriegsliteratur durch einen so simplen wie genialen Wechsel der geographischen Perspektive: Er verpflanzt den deutschen Handlungsort in die Südsee, an den fernsten Punkt des kurzlebigen deutschen Kolonialreichs.

Wie schwach dort die deutsche Stellung ist! Das in Beschlag genommene, Neupommern genannte Gebiet ist ein unprofitabler, im Ernstfall nicht zu verteidigender Außenposten, eine spielerische Prestigeangelegenheit, sonst nichts. Mit dem Satz „Herbertshöhe war nicht Singapore“, ist alles gesagt. Die Reisenden aus Deutschland müssen unterwegs in britisch kontrollierten Häfen anlegen. Der Gouverneur Albert Hall, der die moralischen Gesetze Deutschlands von den heuchlerischen der Angelsachsen unterscheidet, repetiert den tiefen Konflikt, der vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Deutschland und der angelsächsischen Welt schwelte: den politischen Konflikt zwischen dem Pragmatismus echter Weltmächte, die im Namen des Humanismus universelle Gesetze aufstellten, über ihre Auslegung und Einhaltung wachten und dabei immer das eigene Interesse im Auge hatten, und der Feststellung der schwächeren Deutschen, der erwiesene Egoismus der Gesetzeshüter würde auch die Amoralität der universellen Gesetze bezeugen und damit ihre Nichtbeachtung legitimieren. Doch dieses schließlich in Scheußlichkeiten einmündende Aufbegehren löste einen finalen Gegenschlag aus. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, werden die Kolonien umstandslos von Australien eingenommen, das zum britischen Empire gehört: dem echten Imperium, das im Zweiten Weltkrieg vom amerikanischen Imperium abgelöst wird.

Apropos: Der wirkliche Engelhardt starb 1919, die Romanfigur aber überlebt sogar den Zweiten Weltkrieg: statt im Führerbunker in einer Erdhöhle. Zur menschlichen Ruine verkommen, wird er von den Amerikanern aufgelesen, aufgepäppelt und ausgefragt. Nach seinem Tod schenkt Hollywood ihm ein zweites, ewiges Leben.

Der Roman ist also viel mehr als eine späte und groteske Variante der Abenteuer- und Reiseliteratur; er ist eine parodistische Parabel über die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Kaum eine Woche nach seinem Erscheinen verfügt er bereits eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte, die wiederum Christian Krachts Blick auf die Gegenwart bestätigt.

In einem vier Seiten langen Generalangriff zieh Spiegel-Autor Georg Diez den Romanautor Kracht des rassistischen, totalitären und, natürlich, rechten Gedankenguts. Der Angriff war so grobschlächtig, daß man zunächst an eine abgekartete PR-Aktion glauben konnte, denn eine bessere Werbung als den impliziten Faschismusvorwurf in dem Wochenmagazin kann ein Roman gar nicht haben. Aber nachdem Diez kurz darauf bei Spiegel online von Jakob Augstein – 24 Prozent-Mitinhaber des Spiegel – als Kulturstalinist vermöbelt wurde, ist anzunehmen, daß er nur die eigene Person ins Gespräch bringen wollte.

Diez ist hier nicht als Person, sondern als Typus interessant, der Rückschlüsse auf den bundesdeutschen Kultur- und Medienbetrieb, auf politische Mechanismen wie auf menschliche Grundmuster erlaubt. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren erschien in dieser Zeitung unter der Überschrift „Der ewige Spitzel“ ein Artikel über den Roman „Tallhover“ von Hans-Joachim Schädlich (JF 10/02). Tallhovers Lebensweg beginnt 1819, unter Metternich, und endet um 1955. Er ist ein reduzierter Charakter, Klassenpetzer und sieht seiner Mutter heimlich bei der Notdurft zu. Kaum erwachsen geworden, sucht er um „eine fruchtbare Tätigkeit bei der Kriminalpolizei“ nach. Die Spur seines Wirkens zieht sich vom Kölner Kommunistenprozeß 1852 über die Gestapo bis zur Stasi. Es war eine Inkonsequenz des Autors, das Buch in der DDR enden zu lassen, anstatt es in die Bundesrepublik hinein zu verlängern und hier den wachsamen Demokraten und bekennenden Verfassungsfreund in den Blick zu nehmen. Der denunziert nicht mehr heimlich, sondern öffentlich, der servile Voyeurismus ist zum auftrumpfenden Exhibitionismus geworden.

Kracht ist konsequenter, und diese Konsequenz erklärt sein anhaltendes Interesse an totalitären Gesellschaftsutopien, das auch in „Imperium“ durchscheint. Das macht ihn nicht zum Totalitarismus-Anhänger. Er hat es aber auch nicht verdient, als ein Musterbube des „demokratischen Diskurses“ verharmlost zu werden. Mit dem Privileg des Künstlers nimmt er sich das Recht heraus, die real existierende Demokratie bis zur Kenntlichkeit zu entstellen! Wie zum Beispiel in „Faserland“, wo er einen Gewerkschafter (oder war es ein SPD-Mann?) als habituellen Nazi identifizierte und damit die Konfrontation zwischen Silvio Berlusconi und dem SPD-Politiker Martin Schulz im europäischen Parlament vorwegnahm.

Für Kracht existiert zwischen dem Liberalismus und dem Totalitarismus keine unumstößliche Mauer, sondern beide bilden ein osmotisches System. Der verwöhnte westliche Dandy aus dem Roman „1979“, der in einem chinesischen Umerziehungslager zu sich selber findet und seine Beichte mit den Worten beschließt: „Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen“, er könnte auch einen Konsens moderner Demokraten formuliert haben.

So etwas kann unter den deutschen Literaten der Gegenwart nur Christian Kracht. Sein neuer, gut lesbarer Roman unterstreicht seine Ausnahmestellung.

Christian Kracht: Imperium. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, gebunden, 256 Seiten, 18,99 Euro

Foto: Autor Christian Kracht (oben); die Postkarte links zeigt den Auswanderer und Ordensgründer August Engelhardt (stehend) und Max Lützow auf der Südsee-Insel Kabakon: Gottesser

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