© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Einigkeit und Recht und Freiheit
Joachim Gauck: Mit seiner widerständigen Biographie ist der kommende Bundespräsident das genaue Gegenteil des bisherigen
Thorsten Hinz

Der nächste Bundespräsident wird kein Parteimann sein, kein Karrierist, kein Phrasendrescher, sondern eine Persönlichkeit, ein Charismatiker gar. Der Rostocker Pfarrer und ehemalige Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde ist ein guter Redner, er strahlt eine natürliche Würde aus und benötigt weder Amt noch Entourage, um in einer Gesellschaft spontan den Mittelpunkt zu bilden. Seine Worte überzeugen, weil er die Zuhörer spüren läßt, daß sie durch Erfahrung beglaubigt sind.

So einen generiert nicht der politische Apparat, er muß ihn sich von außen holen. Gauck ist ein Mann mit einer lupenreinen, wenn auch ungewöhnlichen DDR-Biographie, die eine musterhaft deutsche, durch Krieg, Besatzung und Teilung geprägte ist. Sein Vater, ein Rostocker Kapitän, wurde von den Russen nach Sibirien deportiert und kehrte erst nach Adenauers Moskaureise 1955 zurück. Eine Verharmlosung des Kommunismus und Volksfrontbündnisse mit Stalinisten werden mit ihm nicht zu machen sein. Für das „Schwarzbuch des Kommunismus“ hat er den Beitrag über die DDR verfaßt. Zwei seiner vier Kinder reisten in den achtziger Jahren in den Westen aus. Die Linkspartei hat Gründe, über seine Nominierung zu maulen.

Auffällig ist, daß die Ost-West-Überlegung bei seiner Aufstellung überhaupt keine Rolle mehr spielte. Gauck gilt ganz einfach als Repräsentant der DDR-Bürgerrechtsbewegung, die nun vom ganzen Land als rühmenswerte Tradition vereinnahmt wird. Letzten Sonntag verlas Günther Jauch am Ende seiner Sendung die elektronische Nachricht eines 24jährigen Studenten aus dem tiefsten Westen, aus Aachen, der mitteilte, daß er über Gaucks Kandidatur glücklich sei und darauf noch ein Bier trinken wolle.

Gauck gehörte in der DDR nicht unmittelbar zur politischen Opposition, aber er füllte als Prediger und Seelsorger souverän die Frei- und Zwischenräume aus, die das SED-Regime unfreiwillig duldete. 1989 rückte er schnell in die Spitze der DDR-Bürgerrechtsbewegung vor. Er gehört zu den wenigen, die sich über die Wendezeit hinaus ihr intellektuelles und politisches Charisma bewahrt und es sogar noch geschärft haben.

Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten bezeugt Gaucks Schilderhebung, daß das politisch-institutionelle Gefüge der Bundesrepublik über eine erstaunliche Flexibilität verfügt. Um ihren ramponierten Ruf zu reparieren und sich vor den Wähler neu zu legitimieren, ist die politische Klasse bereit, sich eine externe Autorität ins Haus zu holen. Der systemische Selbsterhaltungstrieb setzte sich sogar über die Finessen der Machtfrau Merkel hinweg, die nun blamiert dasteht und an die Grenze ihrer Wirksamkeit gestoßen ist. Die Unterstützer Gaucks sind aber keineswegs durchweg von edlen Motiven getragen. Der schleswig-holsteinische FDP-Mann Wolfgang Kubicki, der zu den frühesten und eifrigsten Gauck-Befürwortern zählte, hatte natürlich die Landtagswahlen im März im Blick. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die FDP damit einen Sympathiebonus erworben hat, der ihr über die Fünf-Prozent-Hürde hilft. Das darf man wohl zu den Kollateralschäden der Präsidentenkür zählen.

Gauck will nach eigener Aussage die Deutschen veranlassen, ihr Land zu lieben. Freiheit und Demokratie sind ihm ein Anliegen. Die ideologischen Barrieren, die in den letzten Jahrzehnten errichtet wurden, beeindrucken ihn noch immer relativ wenig. Die taz, die für die Präsidentenwahl eine ausschließlich weibliche Wunschliste zusammengestellt hatte – mit Rita Süssmuth, Margot Käßmann, Petra Roth – schäumt jetzt geradezu, weil Gauck Thilo Sarrazin als „mutig“ bezeichnet hat (ohne seine sachlichen Positionen zu übernehmen), weil er die Occupy-Bewegung mal „albern“, mal „gefühlsduselig“ nannte, und weil er sich als Präsident auch in der Ausländerfrage nicht „neu erfinden“ will. Wer kann das schlimm finden? Die Feigen, Angepaßten und Verantwortungslosen doch wohl! Und diejenigen, die einfach nicht erwachsen werden wollen und wie Kinder in stets neue Kostüme schlüpfen. Gauck mit seinem gesunden Menschenverstand ist das personifizierte Dementi aller Quoten.

Er kann und wird kein Wundertäter sein. Wir schrieben schon bei seiner ersten Kandidatur im Sommer 2010: Von einem Mann, der die Auswirkungen der Diktatur und die Begeisterung für die Freiheit zu seinem Lebensthema gemacht hat, wünscht man sich deutlichere Interventionen zu Problemen der Gegenwart, als sie von ihm bisher zu vernehmen waren. Muß einem Stasi-Bewältiger es nicht aufstoßen, wenn der Verfassungsschutz die Innenpolitik und die Meinungsbildung durch manipulative Expertisen und Aktionen zu beeinflussen versucht und wenn die Meinungs- und Diskussionsfreiheit durch Strafgesetze beschränkt wird? Bedrückt es ihn nicht, wenn die IM-Mentalität sich wieder ausbreitet und sogar – als vermeintliche Zivilcourage – in der Bundesrepublik eine öffentliche Anerkennung findet, die sie in der DDR niemals hatte? Hat der Parteien- sich nicht längst zu einem vormundschaftlichen Staat entwickelt.

Seinen Kritikern von der Linkspartei ist insofern zuzustimmen, daß die Stasi-Problematik nicht länger nur als eine moralische, sondern auch als politische und historische Frage zu behandeln und mit dem kalten Bürgerkrieg zwischen beiden deutschen Staaten in Beziehung zu setzen ist, in dem sich wiederum der ideologische Weltbürgerkrieg spiegelte. Seine Tätigkeit in der Stasi-Unterlagenbehörde wird immer wieder Anlaß auch zu kritischen Nachfragen geben. Das liegt in der Natur der Sache. Nachträglich ist hier ja eine fast tragisch zu nennende Dialektik zu konstatieren: Die Säuberungen der Institutionen von Stasi-Belasteten haben auch dazu gedient, daß die Bundesrepublik ihr überschüssiges Personal an Politikern, Akademikern et cetera in die neuen Länder entsenden konnte und in der größeren Bundesrepublik alles beim alten geblieben ist. Immerhin hat Gauck hervorgehoben, daß in der DDR nur eine kleine Minderheit als IM tätig war und der Verrat in beiden Teilen Deutschlands stattfand. Dieses Problem wäre zu vertiefen.

Die Erweiterung der geschichtlichen Perspektiven ist eine Aufgabe, der ein Bundespräsident Joachim Gauck viel eher gewachsen sein könnte als sein Vorgänger. Ein wichtiges Jubliläum, das in seine Präsidentschaft fällt, ist der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs 2014. Es wird darauf ankommen, einen präsidialen Kontrapunkt zu der Neigung zu setzen, die Linie einer „deutschen Schuld“ immer tiefer in die Vergangenheit zu ziehen. Die Liebe zum eigenen Land, die der designierte Präsident bekundet, verträgt keine Fortsetzung des hemmungslosen Schuldkults und seine Erhebung zum zentralen Element der kollektiven Identität.

Natürlich wird Gauck sich den institutionellen und politischen Zwängen seines Amtes unterwerfen müssen, dabei wird er viel von seiner Originalität verlieren. Um nicht völlig konturenlos zu werden und die authentischen Interessen der Bürger deutlich zu machen, darf er die Konfrontation mit der politischen Klasse nicht scheuen. Ein Balanceakt wird das allemal, denn letztlich sitzen Regierung und Parlament doch am längeren Hebel. Sie können, da der Präsident über keine exekutive Macht verfügt, ihn einfach mit Ignoranz strafen. Dann wird es darauf ankommen, daß er anderweitig Verbündete hat. Die wichtigste Frage aber lautet, ob er mehr sein kann als bloß eine neue Galionsfigur an einem sinkenden Schiff, oder ob seine Einsprüche es vermögen, einen Kurswechsel zu erreichen. Der allgemeine Jubel über den Kandidaten klingt ein wenig nach Problemflucht. Doch die Probleme sind riesig. Nur zur Erinnerung: Deutschland haftet in der Euro-Krise für mittlerweile 643 Milliarden Euro. Die EZB, indem sie den Südländern billige Notenbank-Kredite reicht, beraubt den deutschen Sparer seiner Guthaben. Die politische Klasse hat uns finanzpolitisch in eine Situation manövriert, die der politisch-militärischen Einkreisung entspricht, in der sich 1914 das Deutsche Reich befand. Gaucks ursprüngliche Unterstützer-Parteien, SPD und Grüne, wollen die Vergemeinschaftung der Schulden. Er wird auf der internationalen wie auf der innenpolitischen Ebene Stellung beziehen müssen.

Gauck, der die befreiende Wirkung der Basisdemokratie erlebt hat und der den Ausspruch „Wir sind das Volk“ als einen der schönsten Sätze empfindet, weil hier die Demokratie und Selbstbestimmung konkret wird, müßte die unkontrollierte und anonyme Macht, die sich in „Brüssel“ zusammenballt, als eine Bedrohung empfinden. Wie wird er diese Spannung in seinen präsidialen Reden auflösen? Erstmals seit vielen Jahren darf man auf den neuen Amtsinhaber gespannt sein.

 

Stationen

24. Januar 1940

Geboren in Rostock als Sohn eines Kapitäns, der von 1951 bis 1955 von den Sowjets nach Sibirien deportiert wurde.

1958 bis 1965

Nach dem Abitur Studium der evangelischen Theologie. Sein Wunsch, Journalistik und Germanistik zu studieren, bleibt ihm verwehrt, weil Gauck weder Mitglied der Jungen Pioniere noch der FDJ ist.

Ab 1967

Vikariat und Ordination. Gauck arbeitet als Pfarrer, zunächst Lüssow/Kreis Güstrow, ab 1971 im Neubaugebiet Rostock-Evershagen. Außerdem ist er als Kreis- und Stadtjugendpfarrer in Rostock tätig.

1982–1990

Leiter der Kirchentagsarbeit in Mecklenburg, Mitglied des Präsidiums des evangelischen Kirchentags. Wegen seiner Förderung von SED-kritischen Positionen wird Gauck seit den achtziger Jahren von der DDR-Staatssicherheit als „Operativer Vorgang“ erfaßt.

Ab Oktober 1989

Mitinitiator der kirchlichen und politischen Protestbewegung in Mecklenburg. Gauck leitet wöchentliche Gottesdienste mit anschließender Großdemonstration in Rostock. Er wird Mitglied und Sprecher des Neuen Forums seiner Heimatstadt.

18. März 1990

Gauck zieht als Abgeordneter (Bündnis 90) in die erste frei gewählte Volkskammer der DDR ein und wird Vorsitzender des „Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) /Amt für Nationale Sicherheit (AfNS)“.

2. Oktober 1990

Die Volkskammer wählt ihn einstimmig, einen Tag später ernennen ihn Bundespräsident von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl zum „Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes“.

1995

Gauck wird für weitere fünf Jahre als „Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ vom Deutschen Bundestag bestätigt.

30. Juni 2010

Gauck wird von SPD und Grünen als Kandidat für das Bundespräsidentenamt vorgeschlagen und unterliegt im dritten Wahlgang mit achtbaren 494 Stimmen dem Kandidaten Christian Wulff (CDU).

Foto: Joachim Gauck in Berlin bei einem Fest seiner Unterstützer (25. Juni 2010): Der frühere DDR-Pfarrer und Bürgerrechtler hat die befreiende Wirkung von Selbstbestimmung und Demokratie am eigenen Leib erfahren

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