© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Gauck knackt das System Merkel
Bundespräsident: Die Kür des früheren DDR-Bürgerrechtlers zum Staatsoberhaupt könnte weitreichende Folgen haben
Paul Rosen

Etwa eine Stunde lang schien die Berliner Koalition zu zerbrechen. Am vergangenen Sonntag meldete die Deutsche Presse-Agentur (dpa) um 19.38 Uhr, Schwarz-Gelb sei durch den Streit um die Nachfolge des zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff „in die tiefste Krise seit ihrem Bestehen gestürzt“. Vom Ausscheiden der Liberalen aus der Regierung war die Rede, von einer Neuauflage der Großen Koalition mit der SPD, von Neuwahlen sogar. Knapp eine Stunde später beruhigte sich die Lage, als dpa tickerte, die Union akzeptiere den von FDP, SPD und Grünen vorgeschlagenen und von der Kanzlerin bis dahin strikt abgelehnten Ex-DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck als Kandidaten. Fortan war von Merkels „Kniefall vor Gauck“ die Rede.

Die falsche Lageeinschätzung war der erste wirklich schwere Fehler Merkels nach gut sechsjähriger Regierungszeit. Innenpolitisch war bis dahin klar, wer in der bürgerlichen Koalition Koch und wer Kellner ist: Nachdem Merkel zunächst in der CDU alle Widersacher ausgestochen oder wegbefördert hatte, kam auch der Koalitionspartner FDP zu keinem Stich mehr. Das System Merkel, ein Geflecht von Vertrauten, Günstlingen und Ausputzern auf unterschiedlichen Hierarchiestufen, legte sich wie Mehltau über das Berliner Regierungsviertel. Erst FDP-Chef Philipp Rösler, bisher wie eine Art Reinkarnation des Ritters von der traurigen Gestalt Don Quichote erscheinend, stoppte die mächtige Frau.

Die Kanzlerin hatte nach dem oder bereits kurz vor dem Rücktritt von Wulff den Plan entworfen, ein breites Bündnis zu schmieden und sich als „Allparteienkanzlerin“ zu präsentieren. Zu gering schien ihr die bürgerliche Mehrheit von nur wenigen Stimmen in der den Präsidenten wählenden Bundesversammlung. Zu groß schien das Risiko, daß die Wahl verlorengehen könnte, da schon Wulff bei deutlich besseren Mehrheitsverhältnissen nur im dritten Wahlgang durchgesetzt werden konnte.

Daß SPD und Grüne noch einmal die Karte Gauck spielen würden, hatte sie für ausgeschlossen gehalten. Nach den politischen Regeln schicke man einen Verlierer nicht wieder ins Feuer, hieß es in Berlin. Hier hätte der Blick ins Geschichtsbuch gereicht: Auch Richard von Weizsäcker (CDU) hatte in der Bundesversammlung 1974 zunächst gegen Walter Scheel (FDP) verloren. Danach war Weizsäcker als Kandidat für das höchste Staatsamt „gereift“ und wurde 1983 gewählt. Bei Gauck entstand nach der Niederlage gegen Wulff 2010 sofort der Eindruck, im Falle eines Falles werde alles auf ihn zulaufen, und als der Fall eintrat, hatte zwar der junge Rösler dies sofort begriffen, nicht aber die altkluge Merkel, die glaubte, noch das Heft des Handelns in der Hand zu haben, und Rot-Grün eine Kandidatenliste schickte.

Gauck wollte sie nicht. Es würde wie eine Niederlage für sie aussehen. Schließlich hatte sie Wulff durchgeboxt. Die Kanzlerin wußte nicht, daß Vizekanzler Rösler, flankiert vom alten Haudegen Rainer Brüderle, am Sonntag mittag bereits mit Rot-Grün verhandelte. Am Nachmittag ließ er sich vom FDP-Präsidium den Vorschlag Gauck absegnen. „Merkel tobte“, wurde berichtet, als die Meldung vom FDP-Präsidium reinkam. Die Kanzlerin knöpfte sich ihren Vize unter vier Augen vor, doch der blieb standhaft.

Merkel hätte das ahnen können, wenn sie sich mit der letzten Bundesversammlung näher beschäftigt hätte. Teile der FDP, vor allem der sächsische Landesverband, waren für Gauck. Man muß die Erfahrungen mit Wulff und den Verlauf der Affäre schon völlig ausblenden, um zu glauben, daß die, die früher Gauck wählen wollten, dies jetzt nicht aus noch größerer Überzeugung tun würden. Während die CDU sich aufregte und der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Michael Kretschmer meinte, das Verhalten der FDP sei ein gewaltiger Vertrauensbruch“, hieß es aus den Reihen der Liberalen, nach zwei Jahren ununterbrochener Demütigungen durch Kanzlerin und Union sei das Faß schlicht übergelaufen. CDU-Kandidaten wie Klaus Töpfer seien als Symbol für Schwarz-Grün nicht hinnehmbar gewesen. Außerdem: Da die FDP ihre Stimmen nicht geschlossen für einen Koalitionskandidaten einbringen konnte, ging man gleich auf Rot-Grün zu.

Die Folgen könnten gravierend sein. Präsidentenwahlen sind oft Richtungsentscheidungen. Unvergessen ist die Wahl von Gustav Heinemann (SPD) im März 1969 zum Bundespräsidenten, die der Bildung der sozialliberalen Koalition im Herbst 1969 vorausging. Sie war gesellschafts- und außenpolitisch eine Zäsur in Westdeutschland. Die von Konrad Adenauer geprägte Nachkriegszeit ging zu Ende, ihre Machstrukturen zerfielen. Wird der Wahltag von Gauck wieder eine Wegscheide markieren, an der die Republik ihren Kurs ändert?

Manches spricht dafür. Gewiß ist aber seit den Iden des Februar 2012, daß in Deutschland Politik ohne Merkel möglich und die FDP nicht tot, sondern aus ihrem autistischen Zustand erwacht ist. Unklar ist, ob der Zustand anhält und die Wahlen im Saarland und in Schleswig-Holstein für liberale Adrenalin-schübe sorgen werden. Klar wird aber sein, daß nach dem „Angriff von innen“ (Spiegel Online) die Arbeit an den Baustellen der Koalition schwieriger wird. Genannt seien nur die Euro-Rettung, die Energiewende, Mindestlöhne und Vorratsdatenspeicherung. Überall würde die Union besser mit der SPD klarkommen, so daß für die Liberalen nach dem Gauck-Votum sich die Oppositionsrolle als möglicherweise die Existenz sichernde Alternative anbietet.

In einem Jahr, so hatte Wulff bei einer Weihnachtsfeier des Bundespräsidialamtes gesagt, werde das „Stahlgewitter“ vorbei sein und keiner mehr über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe sprechen. Damit wird er recht haben, wenn auch in einem anderen Sinne. Unvergessen bleiben die letzten Tage seiner 20 Monate dauernden Amtszeit. Am Sonntag vor einer Woche präsentierte Wirtschafts-staatssekretär Peter Hintze (CDU), ein enger Vertrauter von Merkel, im Fernsehen Auszüge aus einem Vermerk der niedersächsischen Staatskanzlei, der Wulff angeblich von Vorwürfen einer zu großen Nähe zum Filmproduzenten Groenewold entlastete. Tatsächlich brachte das komplette Dokument den Beweis des Gegenteils.

In Berlin wird gerätselt, ob der frühere CDU-Generalsekretär Hintze das nicht kapiert hatte oder bewußt falsch instruiert worden war, um in der Tradition byzantinischer Höflinge eine Verteidigungsrede zu halten, die in Wirklichkeit zum Todesurteil führte.

In der Folge nahm die Ermittlungsmaschine der Staatsanwaltschaft Hannover Tempo auf. Es stellt sich die Frage, ob ein Staatsanwalt von sich aus die Aufhebung der Immunität des ersten Mannes im Staate beantragt, ohne zuvor Rücksprache mit der die Dienstaufsicht führenden Landesregierung und mit ihrem Ministerpräsidenten David McAllister (CDU) zu halten. Und sollte dieser einen solch sensiblen Sachverhalt nicht mit der CDU-Chefin beraten haben? Praktiker verneinen diese Fragen.

Als der Antrag auf Aufhebung der Immunität am Donnerstag vergangener Woche in Berlin bei Bundespräsident Norbert Lammert (CDU) eintraf, war klar, daß Wulff den nächsten Tag nicht überstehen würde. Er konnte sich nur noch die Uhrzeit des Rücktritts aussuchen.

 

Zusammensetzung der Bundesversammlung

Der Bundespräsident wird gemäß Artikel 54 des Grundgesetzes von der Bundesversammlung gewählt. Das Wahlgremium setzt sich aus den Abgeordneten des Bundestages sowie der gleichen Anzahl von Mitgliedern der Landtage zusammen, die „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden“. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat die 15. Bundesversammlung für den 18. März in den Berliner Reichstag einberufen.

Foto: Joachim Gauck (Mitte) am Sonntag im Kreis der Parteichefs im Kanzleramt: Gegen jede politische Regel zum zweiten Mal ins Feuer geschickt

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