© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

„Nationales Gefühl“
Wer ist Joachim Gauck? Vier Annäherungen: Erstens, der Patriot
Moritz Schwarz

Herr Kühn, zu den ersten Sätzen Joachim Gaucks nach seiner Nominierung am Sonntag abend gehörte: „Mir ist wichtig, daß die Menschen wieder lernen, daß sie in einem guten Land leben, das sie lieben können.“ Ist das erstaunlich?

Kühn: Es sollte eigentlich selbstverständlich sein – ist es aber nicht. In einem Interview mit der Rheinischen Post antwortete er auf die Frage, ob er Patriot sei, immerhin mit: „Absolut.“

Es gehört allerdings durchaus noch zum Comment eines Teils des politischen Establishments sich als Patriot zu bezeichnen.

Kühn: Gemeint ist damit allerdings meist stillschweigend der – nicht verkehrte, aber zu schmalbrüstige – „Verfassungspatriotismus“. Bei Gauck dagegen scheint es jedoch so zu sein, daß er Heimatliebe meint, die sich emotional eben nicht nur auf die Verfassung bezieht. Das ist für die Sozialisation in der DDR übrigens nicht untypisch.

Inwiefern?

Kühn: Ich hatte sowohl während meiner Zeit als Präsident des Gesamtdeutschen Instituts, wie auch nach der Wiedervereinigung bei meiner Tätigkeit in Sachsen, den Eindruck, daß die Deutschen aus der DDR im Schnitt nationalbewußter und heimatverbundener waren als viele Bundesbürger, die oft zuerst Europäer oder gar „Weltbürger“ sein wollten und stolz behaupteten, überall zu Hause sein zu können – wenn nur das Geld stimmt.

Allerdings auch Angela Merkel, Marianne Birthler oder Friedrich Schorlemmer sind in der DDR geboren, haben aber nie sonderlich Sinn für Patriotismus bewiesen.

Kühn: Inwieweit das für alle genannten Persönlichkeiten zutrifft, wäre zu untersuchen. Mein Eindruck war allerdings, daß in der Führung der evangelischen Kirche in der DDR – vielleicht auch als Folge des engeren Kontaktes zu Glaubensbrüdern im Westen – Patriotismus und Nationalgefühl unterentwickelt waren. 1989 glaubte Manfred Stolpe sogar, öffentlich vor der Wiedervereinigung warnen zu müssen! Das hat vielleicht auch zur Entfremdung der Menschen von der Kirche beigetragen, da sich die Mehrheit der DDR-Deutschen als ein Volk mit den Westdeutschen begriff.

Gauck gibt in dem von Ihnen genanntem Interview jedoch auch an, „als junger Mann Patriotismus verabscheut“ zu haben, das habe sich „erst in den vergangenen Jahren verändert“.

Kühn: Das kann durchaus mit der von mir angesprochenen Sozialisation in der Kirche zusammenhängen. Immerhin spricht es für sein Gefühl und für seinen Verstand, daß da eine Änderung eingetreten ist.

2006 plädierte Gauck im Gespräch mit dem Deutschlandfunk für eine stärkere Hinwendung zum Schicksal der Vertriebenen in der deutschen Erinnerungskultur.

Kühn: Ja, er hat in einer Zeit, in der Vertriebene vielen per se als verdächtig gelten, daran erinnert, daß Schlesier, Pommern und Ostpreußen ihre Heimat verloren und somit mehr „bezahlt“ haben als die übrigen Deutschen. Das war mutig und anständig. Ob und inwieweit diese Haltung allerdings praktische Folgen hat, bleibt abzuwarten.

Nun wird ihm vorgeworfen, er habe in der „Deutschland schafft sich ab“-Debatte 2010 Thilo Sarrazin „Mut“ für dessen Thesen attestiert.

Kühn: Ich bin ziemlich sicher, daß sich Gauck durch die Sorge um Deutschland angesprochen gefühlt hat, die bei Sarrazin zum Ausdruck kam. Auch hier gilt: Die DDR-Deutschen wollten die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands und nicht Multikulti-Abenteuer mit unkalkulierbaren Folgen.

Schon bei Horst Köhler fiel auf, daß dieser eher patriotische Worte fand als vor ihm Rau und nach ihm Wulff.

Kühn: Ich glaube, das liegt in der Tat daran, daß Köhler – wie Gauck – nicht zum Polit-Establishment gehörte: Beide haben sie nicht gelernt, patriotische und nationale Gefühle zu unterdrücken. Ich kann nur hoffen, daß sich Gauck auch weiterhin nicht verbiegen läßt.

 

Detlef Kühn, 75, Ehemaliger Präsident des Gesamtdeutschen Instituts im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen

 

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