© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/12 17. Februar 2012

Der Flaneur
Ihr Werk, unser Zwang
Josef Gottfried

Einhundertfünfzig Stundenkilometer auf der Autobahn, das graue Band, das aus dem Land eine Stadt macht, das die Dörfer eingemeindet und uns die Mobilität ermöglicht, uns also zur Mobilität zwingt – und wir wehren uns ja nicht dagegen. Vielleicht auch aus guten Gründen.

Also geht es weiter, von irgendwo nach irgendwo. A96, A1, A44 sind die technischen Begriffe, obwohl sie doch mystischerer Namen bedürften, haben sie doch Wälder zerschnitten, Dörfer geteilt und Berge durchbohrt. Nur wegen ihnen können wir jederzeit fast jeden Ort in Europa in nur wenigen Stunden erreichen. Und sie funktionieren immer. Die größten Einschränkungen sind Höchstgeschwindigkeiten und Stau, die größten Belastungen sind Müdigkeit und Harndrang.

Wir brausen an einem liegengebliebenen Fahrzeug vorbei, uns bleiben nur wenige Sekunden, um ihn zu sehen, den Fahrer. Auf dem Seitenstreifen steht sein Oberklasse-Fahrzeug, so neu, daß die Mechanik nicht defekt sein kann, nur die Elektronik (selbst von der Maschine haben wir uns entfremdet).

Der Fahrer steht im Anzug hinter der Leitplanke, Schuhe im Matsch, Warnweste an, Kinn auf der Brust, Blick aufs Handy, das er mit seiner rechten Hand vor seinen Bauch hält. In den anderthalb Sekunden, in denen ich sein Gesicht betrachten kann, erkenne ich keine Anzeichen von Sorge oder Ärger. Obwohl er kilometerweit vom nächsten Ort entfernt ist, und obwohl weder Schuhe noch Bekleidung für diesen Marsch geeignet wären, bleibt er vollkommen gelassen.

Denn das graue Band wird gepflegt, jederzeit sind sie treu bereit, diese guten Geister. Oft brauchen sie nur wenige Minuten, selten länger als ein paar Stunden, um das Band zu entwirren, wenn sein Fluß ins Stocken gerät. Ihre Arbeit, unsere Freiheit. Ihr Werk, unser Zwang.

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