© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/12 17. Februar 2012

System der Ausweglosigkeit
Der britische Historiker Ian Kershaw über die Deutschen im letzten und opferreichsten Kriegsjahr
Herbert Ammon

Wer sich einen Sinn für die deutsche, somit auch für die europäische Tragödie bewahrt hat, kommt immer wieder auf die Frage zurück: Was wäre gewesen, wenn Attentat und Staatsstreich am 20. Juli geglückt wären? Eine schlichte Antwort, spätere Simplifikationen gleichsam vorwegnehmend, gab Anfang August 1944 der Luftwaffenleutnant Freiherr von Richthofen in einem vom britischen Nachrichtendienst abgehörten Gespräch. Er sei froh, daß der Anschlag mißglückt sei. Eine „Dolchstoßlegende“ sei zu erwarten gewesen. „Aus politisch-pädagogischen Gründen (sei es) absolut erforderlich, daß diesmal die Nation den Weg bis zum bitteren Ende geht.“

Das Zitat, gesprochen „aus der komfortablen Entfernung seiner Haft in der Nähe Londons“, läßt ein Historiker wie Ian Kershaw nicht unkommentiert stehen: „Diese Einschätzung ließ die Millionen von Menschenleben außer acht, die gerettet worden wären, wenn der Bombenanschlag geglückt und der Krieg rasch beendet worden wäre.“ Richtig sei der Hinweis auf die Dolchstoßlegende sowie auf die totale militärische Niederlage als Voraussetzung für den Sturz des NS-Regimes. „Die Frage, wie das Regime seine Kriegsanstrengungen bis zu diesem Punkt aufrechterhalten würde – der, wie sich herausstellte, erst in über acht Monaten erreicht werden sollte –, stellte Richthofen jedoch nicht.“

Den 20. Juli 1944 nimmt Kershaw zum Ausgangsdatum für sein jüngstes Werk, in dem er das schier unendliche Finale des (Groß-)Deutschen Reiches darstellt. Am Anfang und Ende steht die Frage: Warum war es möglich, daß trotz absinkender Regimeloyalität und weithin geschwundenen Glaubens an den „Endsieg“, angesichts des massenweisen Sterbens die Deutschen von sich aus dem Schrecken kein Ende setzten? Eine Antwort im Hinblick auf die Jahreswende 1944/45: „Das NS-Regime war immer noch eine unendlich starke Diktatur“, bereit zu immer brutalerer Gewalt. „Sie ließ nur wenig Raum für Opposition – die offensichtlich ebenso selbstmörderisch wie vergeblich gewesen wäre.“ Dazu das Resümee im Schlußkapitel: „Ohne Terror hätte es sehr gut zu einem Volksaufstand kommen können.“ Derlei Sätze sind heute selten zu finden. Kershaw äußert Distanz zu Autoren wie Götz Aly und Robert Gellately, die dem Klischee einer fanatisierten Volksgemeinschaft anhängen.

Am 20. Dezember 1943 hatte Hitler vor seinen Generälen die angekündigte Invasion im Westen für kriegsentscheidend erklärt. Nach der Landung in der Normandie daraus Konsequenzen zu ziehen, lag seiner Natur – eine narzißtische Persönlichkeit – fern. Nach dem 20. Juli ließ sich hingegen der Zyniker Joseph Goebbels vernehmen: „Damit Hitler Vernunft annimmt, braucht er eine Bombe unter den Arsch.“ Während Goebbels Anfang Februar 1945 noch propagandistisch für den „Endkampf“ rüstete, schrieb er an seine Frau: „Ja, Süßing, wir sind fertig (...) Da hilft alles nichts.“

Wenn von Hitler weder Einsicht noch Vernunft zu erwarten war, warum kam es zu keiner weiteren Fronde? Warum setzten trotz zusammenbrechender Fronten und offenkundig unabwendbarer Niederlage die Militärs den Krieg bis zum vollständigen Zusammenbruch und der Besetzung des Landes fort? Warum dachte niemand – von der späten Ausnahme des SS-Generals Karl Wolff an der italienischen Südfront abgesehen – an Waffenstillstandsgesuch und Kapitulation?

Die Antwort auf derlei Fragen findet Kershaw auf zwei korrelierten Ebenen: zum einen in den Strukturen der charismatischen Herrschaft, zum anderen in den Mentalitäten der Herrschaftsträger sowie der Beherrschten. Was die untere Ebene des Weberschen Paradigmas betrifft, so konnte im Kriegsjahr 1944/45 von allgemeiner Führer- und Kriegsbegeisterung keine Rede mehr sein. Kershaw belegt die These von der nach unten schwankenden Kurve von Regimetreue und von anschwellendem Haß aus der Fülle seiner Quellen: Archivalien, den SD-„Berichten aus dem Reich“, Briefen von Soldaten und Familienangehörigen sowie Memoiren (!), um unzweideutig festzustellen: Längst bröckelte „unten“ Hitlers „Charisma“, selbst bei einstigen NS-Enthusiasten. Westalliierte Untersuchungen über die Einstellung von Kriegsgefangenen ergaben ein ähnliches Bild: Nur etwa 35 Prozent waren nationalsozialistisch gesinnt, davon etwa zehn Prozent „fanatische“ Gläubige.

Stabil blieb die Herrschaftsstruktur an der Spitze. Neben den rivalisierenden „Quadrumvirn“ Bormann, Himmler, Goebbels und Speer („die rätselhafteste Figur an Hitlers Hofstaat“) und deren Machtapparaten konnte sich der Diktator bis zum Ende auf seine Generäle stützen. Dies gilt nicht nur für Männer wie Keitel, Jodl, und Dönitz (bei Kershaw ein überzeugter Nationalsozialist), erst recht für Hitlers letzten Feldmarschall Ferdinand Schörner. Es gilt auch für vermeintlich unpolitische Militärs wie Walter Model, der noch im Ruhrkessel für gefährlich erachtete Gefangene der Schnelljustiz überantwortete, oder für Albert Kesselring, der sich von Wolffs Kontakten zum US-Geheimdienstler Allen Dulles fernhielt und noch Ende April im Harz eine militärisch wichtige Position zu verteidigen meinte.

Doch selbst dem NS fernstehende Generäle wie Georg-Hans Reinhardt, Gotthard Heinrici oder Johannes Blaskowitz fügten sich aus Motiven wie Treueid, Pflichtbewußtsein, Patriotismus in das System sinnloser Kriegsverlängerung. Mehr noch: Nicht wenige teilten die Fiktion von „Zeitgewinn“ und Spaltung der „unheiligen Allianz“, woran nach Jalta (4. bis 11. Februar 1945) selbst Hitler nicht mehr glauben mochte.

Bezüglich der Relevanz der Unconditional-Surrender-Formel ist Kershaws Argumentation nicht widerspruchsfrei. Er teilt die Ansicht Bodo Scheurigs, es sei ein „fadenscheiniger Vorwand“ der Generäle zur Abwälzung der eigenen Verantwortung gewesen. Dagegen spricht ein Satz Jodls: „Nur gut, daß durch die alliierte Forderung auf bedingungslose Kapitulation allen Feiglingen der Weg verlegt ist, um nach einem politischen Ausweg zu suchen.“ Im Fußnotenapparat steht Anne Armstrongs Buch „Bedingungslose Kapitulation. Die teuerste Fehlentscheidung der Neuzeit“ (1965).

Im Hinblick auf die Greuel sowjetischer Truppen – angeheizt von „dem Erzpropagandisten Ehrenburg“ – findet es Kershaw verständlich, daß die Wehrmacht an der Ostfront bis zum Ende weiterkämpfte (obgleich es auch dort zu zahlreichen Desertionen kam). Unerwähnt läßt er Churchills Ankündigung im Unterhaus (15. Dezember 1944) der „totalen Vertreibung“ von Millionen Deutschen. Mitgefühl für die Ängste und Leiden der Deutschen in den Monaten des Infernos des militärisch sinnlosen „Bombenterrors“ (sic!) zeichnet das Buch aus. Bezüglich des „Wissens“ um die NS-Verbrechen bietet Kershaw eine differenzierende Argumentation. Bei der Darstellung des Judenmassakers in Palmnicken Ende Januar 1945 oder der „Hasenjagd“ auf geflüchtete KZ-Häftlinge bei Celle verweist er auf Gesten von Mut und Mitmenschlichkeit. Die Deutschen – nicht nur „Hitlers willige Vollstrecker“. Zudem: „Es wäre aussichtslos, wollte man für diese Wochen nach einer konsistenten Politik der Nationalsozialisten suchen.“

Kershaws Buch dürfte zum Standardwerk über das Ende des Hitler-Reiches avancieren. Im Spiegel-Interview mit Jan Fleischhauer spricht er über den 20. Juli: „Wenn man über diese Dinge schreibt, spürt man innerlich den Wunsch, es sollte gelingen. (...) Politisch gesehen ist es allerdings wohl ein Segen, daß die Attentäter mit ihrem Vorhaben gescheitert sind. Die Chancen eines demokratischen Deutschland wären andernfalls deutlich geringer gewesen.“

So bestätigt sich am Ende die alte Erkenntnis: Historie ist von Politik schwer zu trennen. Dennoch läßt sich zusammenfassen: Der britische Historiker hat ein bedeutendes, dank hervorragender deutscher Übersetzung faszinierend zu lesendes Buch geschrieben.

Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45. DVA, München 2011, gebunden, 704 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro

Foto: US-Soldaten im „Chaos“ (Hessen 1945), NS-Propaganda ruft Frankfurt/ Main zur Frontstadt aus: Durchhalten trotz abnehmender Regimetreue

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