© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Der nasse Tod kam im Schlaf
Die verheerende Sturmflut, die im Februar 1962 Hamburg und die Nordseeküste traf, ist bis heute die größte Katastrophe in Deutschland seit Kriegsende
Marcus Schmidt

Das Jahr 1962 begann in Norddeutschland stürmisch. Bereits seit Dezember 1961 blies der Wind stetig aus westlicher Richtung und trieb das Wasser an die Küste und in die Elbmündung. Mitte Februar verschärfte sich die ungewöhnlich lang andauernde Wetterlage dramatisch und gipfelte schließlich in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar in einer sehr schweren Sturmflut, die überall an der Nordseeküste massive Zerstörungen hinterließ. In Hamburg führten die vom Sturm in die Elbe gedrückten Wassermassen zur Katastrophe: Deiche brachen, tiefgelegene Siedlungsgebiete wurden überflutet – Hunderte Menschen starben. „Das ganze deutsche Volk muß nun zusammenstehen“, sagte Ludwig Erhard (CDU) unter dem Eindruck der Opfer der Naturgewalten.

Es war die größte Katastrophe in Deutschland seit den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges. Nie zuvor und danach seit 1945 starben in Deutschland so viele Menschen auf einmal durch eine Katastrophe. Die Flut 1962 hat sich tief in des kollektive Gedächtnis der Norddeutschen und vor allem der Hamburger gegraben. Am Ende waren in Deutschland 347 Tote zu beklagen, davon alleine 315 in Hamburg. Die meisten von ihnen, häufig Ausgebombte und Vertriebene, die noch in Behelfsunterkünften und Kleingärten lebten, kamen in dem teilweise unter dem Wasserspiegel liegenden Stadtteil Wilhelmsburg ums Leben. Die von zwei Elbarmen umschlossene Insel, damals wie heute ein Wohngebiet, lief wie eine Badewanne voll, nachdem das Wasser zunächst Deiche überspült hatte und diese dann an insgesamt sechzig Stellen brachen. Ein Fünftel der Stadt wurde überflutet. In weiten Teilen Hamburgs brach die Strom- und Gasversorgung zusammen, noch Tage später war das Telefonnetz gestört.

Dabei war der Katastrophenschutz in Hamburg zunächst generalstabsmäßig angelaufen. Die zuständigen Einsatzstäbe hatten am 16. Februar ihre Arbeit aufgenommen, als sich abzeichnete, daß eine Sturmflut drohte. Polizei und Feuerwehr waren in den Ausnahmezustand versetzt, die Deichwehren begannen Sandsäcke zu befüllen. Doch dann geschah, womit trotz aller Vorkehrungen in Hamburg niemand ernsthaft gerechnet hatte – die Deiche hielten dem Druck der Flutwelle nicht stand, und es rächte sich bitter, daß es die Behörden unterlassen hatten, die Menschen in den von den Wassermassen bedrohten Gebieten zu evakuieren oder zumindest nachdrücklich vor der tödlichen Gefahr zu warnen. Daß die Hamburger Behörden nicht, wie in Cuxhaven an der Elbmündung geschehen, die Bevölkerung aufforderten, in die oberen Stockwerke zu flüchten und die Nachbarn zu warnen, lag an einer Reihe von Übermittlungspannen und menschlichen Unzulänglichkeiten im Angesicht der Jahrhundertflut. Viele Opfer wurden von den Fluten im Schlaf überrascht.

In dieser Ausnahmesituation ergriff ein Mann die Initiative: Helmut Schmidt. Der damalige Hamburger Innensenator, der erst seit Dezember 1961 im Amt war, begründete mit seinem kompromißlosen Handeln, das sich an den Notwendigkeiten orientierte und nicht an vorgegebenen Organisationsstrukturen, seinen bis heute legendären Ruf. „Der Führer berief sich selbst“, kommentierte der Spiegel nach der Flut halb staunend, halb entsetzt die zupackende Art des damals 43 Jahre alten SPD-Politikers. Er habe sich als „forsch, frech, und furchtlos“ erwiesen, als er sich einer eindrucksvollen Streitmacht von 8.000 Bundeswehrsoldaten mit 82 Hubschraubern, 4.000 britischen, amerikanischen und holländischen Nato-Soldaten mit 19 Hubschraubern, 400 Mann des Bundesgrenzschutzes, 1.700 Feuerwehrleuten, 2.000 Mann vom Technischen Hilfswerk, 1.000 DRK-Helfern, 640 Helfern anderer Organisationen, 2.000 Mann vom Bundesluftschutzverband, 400 Bereitschaftspolizisten aus mehreren Bundesländern sowie der kompletten Polizei der Hansestadt mit 5.000 Beamten bemächtigte. „Sie sind mir nicht unterstellt worden, ich habe sie mir genommen“, kommentierte der spätere Verteidigungsminister und Bundeskanzler sein Handeln, das dazu beitrug, zahlreiche Menschenleben zu retten. So wurden etwa 2.000 Hamburger aus unmittelbarer Lebensgefahr unter anderem von den Dächern ihrer Häusern gerettet, gut 17.300 Menschen aus den überschwemmten Gebieten evakuiert und etwa 6.000 von den Wassermassen eingeschlossene Menschen aus der Luft mit Lebensmitteln versorgt. Schmidt, der selbst Reserveoffizier war, nutzte dafür seine Kontakte zur Bundeswehr und den alliierten Streitkräften, die er unter anderem als Bundestagsabgeordneter geknüpft hatte.

Eine Untersuchungskommission kam später zu dem Schluß, daß ausgerechnet die Deichbrüche, die Hunderte Hamburgern das Leben gekostet hatten, auf grausame Weise die Stadt vor noch größeren Verheerungen bewahrt hatten. „Ohne die Deichbrüche wären wahrscheinlich beträchtliche Überflutungen an anderer Stelle eingetreten“, heißt es in dem Expertenbericht. Das Wasser, daß in der Innenstadt nur bis zum Rathausmarkt vordrang, hätte dann vermutlich darüber hinaus auch die Stadtteile rund um die Alster überflutet. Auch wenn der Schaden dadurch wesentlich größer ausgefallen wäre als die 820 Millionen D-Mark, die später bilanziert wurden, wären vermutlich weit weniger Menschen ums Leben gekommen.

Neben Hamburg wurde auch die Nordseeküste von der Flut schwer getroffen. Doch anders als in der Millionenstadt, deren komplexe Infrastruktur sich als äußerst anfällig erwies, waren die Folgen relativ glimpflich. Zwar brachen auch hier vielerorts Deiche oder wurden schwer beschädigt, doch blieb die ganz große Katastrophe aus. Den Menschen an der Küste war und ist die ständige Bedrohung durch die Urgewalten der Nordsee viel bewußter, das Verhalten im Ernstfall eingeübter.

In Hamburg, auf dessen Rathausmarkt sich am 26. Februar 1962 mehr als 150.000 Menschen zu einer Trauerfeier für die Opfer der „grausamsten Heimsuchung Deutschlands seit Kriegsende“ (Spiegel) versammelten, wurde dagegen vielen Menschen erst durch die Flut wieder die exponierte Lage der Hafenstadt bewußt. Mehr als 15.000 auswärtige Helfer ehrte der Senat mit einer Medaille („Das dankbare Hamburg seinen Freunden in der Not“). Nach guter hanseatischer Tradition, Orden abzulehnen, erhielten Hamburger Katastrophenhelfer statt der Medaille Gedenkbücher.

Und heute? Am Hamburger Elbstrand und im Hafen finden sich zahlreiche Wasserstandsmarken, die für die Nachwelt dokumentieren, wie hoch das Wasser bei der Sturmflut 1962 stand. Vielerorts wurde über diesen eine weitere Marke mit der Jahreszahl 1976 angebracht. Damals erreichte Hamburg Anfang Januar eine Sturmflut mit einem Pegelstand von 6,45 Meter über Normalnull. Die Flutwelle war damit höher als im Jahr 1962, als das Wasser auf 5,78 Meter stieg. Dennoch blieb eine neue Katastrophe aus, auch wenn die Schäden im Hafen größer waren als 1962. Die seit der Flutkatastrophe eingeleiteten Maßnahmen für den Hochwasserschutz hatten sich weitgehend bewährt.

Die ufernahen Gebiete an der Elbe und am Hafen wurden seitdem weiter systematisch mit höheren Deichen und Sperranlagen versehen. Dennoch kann die Gefahr nicht vollständig gebannt werden. Die geplante erneute Elbvertiefung, die es den immer größeren Containerschiffen ermöglichen soll, den weit im Landesinneren liegenden Hamburger Hafen anzulaufen, birgt neue Gefahren, da durch die erhöhte Fließgeschwindigkeit des Flusses die Deiche gefährdet werden. Auch der drohende Anstieg des Meeresspiegels erhöht die Gefahr für die Hansestadt, in der mit dem Bau der Hafen-City künftig wieder mehr Menschen in unmittelbarer Wassernähe wohnen.

In Hamburg sieht man sich dennoch für kommende Sturmfluten gewappnet. Als Mitte der neunziger Jahre das Wasser erneut über die Sechs-Meter-Marke stieg, gab es kaum Schäden. Mittlerweile haben die Behörden als Obergrenze einen Wasserstand von 7,30 Metern im Auge. Bei diesem Wert ist heute die Evakuierung von Wilhelmsburg vorgesehen, dessen Bewohner wie die anderer gefährdeter Stadtteile anders als 1962 mit ständig aktualisierten Flugblättern auf den Katastrophenfall vorbereitet werden – auch auf polnisch, türkisch, serbokroatisch englisch und russisch. Denn in Hamburg und überall an der Nordseeküste wissen die Menschen seit Jahrhunderten: Die nächste Sturmflut ist nur eine Frage der Zeit.

Foto: Helfer retten während der Flutkatastrophe am 17. Februar 1962 Tausende von den Wassermassen eingeschlossene Hamburger. Viele Soldaten, Feuerwehrleute und Freiwillige wurden später vom „Mann der Stunde“, Innensenator Helmut Schmidt (SPD), für ihre Verdienste mit einer Medaille ausgezeichnet (Mitte): „Sie sind mir nicht unterstellt worden, ich habe sie mir genommen“

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