© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

„Deine Mama kommt nicht mehr!“
SED-Unrecht: Katrin Behrs Erinnerung an die Trennung von ihrer Mutter und ihre Zwangsadoption durch eine linientreue Familie
Jörg-Bernhard Bilke

Am 16. Dezember 1975 wurde Jörg Mettke, DDR-Korrespondent des Hamburger Nachrichtenmagazins Spiegel, wegen „grober Verleumdung“ aus Ost-Berlin ausgewiesen. Sein journalistisches Vergehen hatte darin bestanden, daß er in zwei Artikeln die deutsche Öffentlichkeit auf ein ungeheuerliches Verbrechen der DDR-Regierung aufmerksam gemacht hatte: der Zwangsadoption von DDR-Kindern aus politischen Gründen!

Die überraschende Ausweisung des Korrespondenten war ein untrügliches Indiz dafür, daß dieses Verfahren staatlich organisierten Kinderraubs tatsächlich praktiziert wurde, nachdem es von Margot Honecker, der „Ministerin für Volksbildung“ 1963/89, per Gesetz sanktioniert worden war. Beweisen freilich konnte man das bis zum Mauerfall 1989 nicht.

Erst Pfingsten 1991 fand Markus Zimmermann, Stadtrat im Bezirk Berlin-Mitte, im Keller seiner Behörde ein Aktenbündel, worin die Fälle dreier zwangsadoptierter Kinder dokumentiert waren. Einer davon war der des Ehepaars Bärbel und Otto Grübel, die 1973 bei einem Fluchtversuch gescheitert und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden waren, worauf ihre Kinder, gegen den Willen der Eltern, nach Eisenhüttenstadt an der Oder in eine staatstreue Familie zur Adoption freigegeben wurden.

Während der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, bis 1989 DDR-Unterhändler beim Häftlingsfreikauf, damals lediglich von wenigen Fällen ausging, rechnet man heute mit tausenden. Margot Honecker, die Urheberin dieses Verbrechens, blieb von der Strafverfolgung verschont und konnte sich 1992 nach Chile absetzen, wo sie heute mit einer bundesdeutschen Rente ihren Lebensabend verbringt, während die Opfer noch immer darunter leiden, was ihnen der sozialistische Staat Entsetzliches angetan hat.

Eines dieser Opfer staatlicher Willkür war Katrin Behr, geboren im Sommer 1967 im ostthüringischen Gera. Sie wurde am 7. Februar 1972, als sie vier Jahre alt war und ihr Bruder Mirko sechs, von fünf Männern und einer Frau im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen und mit ihrer Mutter (24) zum Marktplatz getrieben, wo zwei unauffällig wirkende Autos geparkt waren. Dort wurde die Mutter in Handschellen gelegt und mit unbekanntem Ziel weggefahren, die Kinder von der Mitarbeiterin der „Jugendhilfe“ zur Großmutter gebracht, wo sie eine knappe Woche auf die Überstellung in ein staatliches Vorschulheim warten mußten. Dort erfuhr das völlig verstörte Kind von einer Erzieherin, daß ihre Mutter eine „Staatsverräterin“ wäre und niemals zurückkäme.

Nach zwei gescheiterten Versuchen der Adoption, wonach Katrin Behr als „unerwünscht“ ins Kinderheim zurückgebracht worden war, durfte sie Weihnachten 1973 bei ihren „neuen“ Eltern in Gera-Langenberg verbringen. Die Pflegemutter war stramme Genossin, arbeitete als Russischlehrerin und Parteisekretärin an der Polytechnischen Oberschule „Bruno Kühn“, benannt nach dem Bruder Lotte Ulbrichts, dem Widerstandskämpfer Bruno Kühn (1901–1944). Der Vater, zu dem das Kind rasch Vertrauen faßte, entstammte einer Arbeiterfamilie in Bad Köstritz und war Maurermeister.

Die Adoptivmutter kam offensichtlich ihrem Parteiauftrag nach, die „Tochter einer rebellischen Staatsgegnerin in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren“, wobei es an Liebe für das angenommene Kind fehlte, das wie eine Dienstmagd mit häuslichen Pflichten überlastet wurde, weshalb zum Spielen und Lesen kaum Zeit blieb. Dennoch war Katrin, die 15 Jahre in dieser Familie verbrachte, eine fleißige und strebsame Schülerin, aktiv auch im kommunistischen Jugendverband, was ihr Selbstbewußtsein wachsen ließ und ihren oft schwachen Lebensmut stärkte. Frühzeitig schmiedete sie Pläne, das Haus der Pflegeeltern und die Geraer Umgebung zu verlassen, und heiratete mit 19 Jahren einen Politoffizier der Nationalen Volksarmee, den sie durch eine Anzeige kennen gelernt hatte. Er war in Prora auf Rügen stationiert, weit genug weg von ihrer Heimatstadt. Daß sie das positive DDR-Bild, das ihr von Elternhaus und Schule vermittelt worden war, übernommen hatte, wird man ihr nicht vorwerfen können. Sie kannte es nicht anders!

Die Nachtseite des SED-Staats lernte sie erst 1991 kennen, als sie, über zwei Jahrzehnte nach deren Verhaftung, ihre verschollene Mutter in der Nähe von Greiz wieder gefunden hatte. Ihrer Mutter, die fünf Jahre in DDR-Zuchthäusern verbracht hatte, mußte die sozialistisch erzogene Tochter freilich wie eine „Abgesandte aus dem Lager ihrer Verfolger“ vorkommen, zumal Schwiegersohn Olaf auch „einer von denen“ gewesen war. Darin scheiterte dann auch das Versöhnungsgespräch zwischen ihren beiden Müttern, das Katrin Behr arrangiert hatte.

Heute ist sie eine selbstbewußte Frau, die nicht an ihrem „Selbstmitleid ersticken“ wollte, sondern die aktiv geworden ist. So hat sie 2007 in Berlin den Verein „Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen“ gegründet und schreibt dazu: „Ich wollte Menschen, die in einer ähnlichen Situation stecken, helfen. Daher dachte ich über die Möglichkeiten nach, wie ich die zerrissenen Lebensfäden, die die DDR hinterlassen hatte, wieder miteinander verknüpfen und dabei ausfindig machen konnte, was damals wirklich geschehen war.“

Seit 2010 arbeitet Katrin Behr bei dem Dachverband der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. (UOKG) als hauptamtliche Beraterin für den Fachbereich DDR-Zwangsadoptionen.

Kontakt: Hilfe für Opfer von DDR-Zwangsadoptionen (OvZ-DDR e.V.), Postfach 1445, 07504 Gera, Telefon: 030 / 55 77 93 54

Der gemeinnützige Verein kümmert sich unter anderem um die Anerkennung betroffener Kinder und deren leiblicher Eltern als politische Opfer.

http://zwangsadoptierte-kinder.de

Katrin Behr: Entrissen. Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm. Droemer, München 2011, gebunden, 304 Seiten, 16,99 Euro

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