© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Der Tod des Volksfreundes
Parteigänger der Revolution: De Sade interpretiert die Gedankenwelt Jean Paul Marats im Dialog / Aufführung im Staatsschauspiel Dresden
Uwe Ullrich

De Sade: „Sie tragen dich und lassen dich fallen.“ Vier Personen halten den agitierenden Führer auf ihren Schultern. Jubel brandet bei jedem Wortschwall auf. Mit dem Nachlassen des Schwungs der Rede verläßt einer nach dem anderen die standhafte Säule des Getragenen – bis er auf den Bühnenboden plumpst. Im Dresdner Staatsschauspiel ist es eine der Schlüsselszenen in „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“, kurz: Marat/Sade, des deutsch- schwedischen Dramatikers Peter Weiss (1916–1982).

In unseren Zeiten der allgemeinen Sinnsuche und Krisenwahrnehmung behält das im September 1964 als Erstfassung im Berliner Schillertheater uraufgeführte Drama in zwei Akten seine Aktualität. Inmitten einer aktiven Auseinandersetzung zwischen Dramatiker und Rezipienten entstanden fünf verschiedene Versionen, welche die Wandlung des Autors von der Position eines „dritten Standpunktes“ zu der eines entschiedenen Sozialisten marxistischer Prägung widerspiegelt.

Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die Ermordung des „ami du peuple“, des Volksfreundes Marat, am Vorabend des vierten Jahrestages der Erstürmung der Bastille, durch die Girondisten- Sympathisantin Charlotte Corday. Fünfzehn Jahre später spielen unter der Regie des Marquis de Sade die Insassen der Irrenanstalt Charenton, wo er selbst zwischen 1803 bis 1814 interniert war, den Abend der Ermordung des Volksfreundes nach. Es entspinnt sich ein Wortgefecht zwischen dem höchstlebendigen Adligen („Ich glaube nur an mich selbst“) und seinem imaginären intellektuellen Widersacher („Ich glaube an die Sache“). Ausgebreitet wird kein dramaturgischer Spannungsbogen, sondern in loser Szenenfolge entwickeln sich Dialoge im geistreichen Wechselspiel von Gedanken, Bildern, Assoziationen, welche die Phantasie und historisches Wissen des Publikums voraussetzen. Friederike Heller (Regie) fragt ihre Zuschauer: „Ist Revolution noch möglich, will man sie haben, und wenn ja, gegen was denn eigentlich.“

Das Streitgespräch mit lockerer Szenenfolge zwischen Jean Paul Marat (Thomas Eisen) und dem Marquis de Sade (Torsten Ranft) entspannt sich in einer bilderbogenartigen Collage mit den Elementen aus Kabarett, Opernarie, Bänkelgesang, Wortspiel, Chorgesang, Rummelbude – und endet immer wieder in der unbändigen Lust, den Gegner zu demaskieren.

De Sade polarisiert. Als Vertreter des Relativismus und Agnostizismus, resignierter Parteigänger der Revolution, glaubt er nicht mehr an die Ideale Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität. Er sucht verbissen nach Wahrheit über den Menschen. In Erkenntnis der Vergeblichkeit alles Handelns, der Wirkungslosigkeit alles Schreibens und der Vergänglichkeit alles Gedachten zieht sich de Sade auf Positionen gesellschaftlich zielloser Unbestimmtheit zurück.

Sein Antipode Marat erscheint als entscheidungsfreudig und handlungsorientiert, brandmarkt den Verzagten als Verräter. Marat glaubt, daß die (proletarische) Revolution für die Interessen der Bourgeoisie verraten wurde. Die von ihm und vom jakobinischen Gedankengut getragene Massenguillotinierung der „Volksfeinde“ soll den Revolutionsverlauf in nur phantasierte proletarische Ziele lenken. Am „Freund des Volkes“ erfüllt sich das längst geahnte Schicksal, als seine Feinde, die „Konterrevolutionäre“, seine Ermordung in die Tat umsetzen lassen. Friederike Heller: „Von heute aus betrachtet ist die Marat-Position wirklich eine historische. Wenn etwas zutrifft, ist es eigentlich das, was de Sade über die Menschen aussagt. Das ist sehr traurig, resignativ, sehr defätistisch und dekadent – aber es stimmt.“

Für den kurzweiligen Theaterabend mit hohem intellektuellem Anspruch sorgt die stimmige Dramaturgie von Julia Weinreich. Über den Zeitraum hinweg hält die Rollengestaltung für den Zuschauer Positionierungen in der Schwebe. Sein Bekenntnis für oder gegen einen der beiden Protagonisten kann kein eindeutiges sein, weil Rechtfertigungen immer wieder neue Sichtweisen, Zweifel oder Erkenntnisse Gegenargumente einfordern. Eine bemerkenswert homogene Ensembleleistung im Bühnenbild und in Kostümen von Sabine Kohlstedt dient als Herausforderung eigener Interpretation.

Waren französische Denker wegweisend in der europäischen Aufklärung, so gehen auch heute wieder unausgegorene (geistige) Impulse aus dem politisch instabilen Land hervor: „Der kommende Aufstand“ (Das unsichtbare Komitee – die auszugsweise Verwertung im Stück ging beim Publikum wegen Unwissens vollkommen unter), „Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens“ (Tiqqun) oder „Empört euch!“ (Stéphane Hessel). Ob und welchen Einfluß ihre Pamphlete auf die Geschichte haben werden, wird sich erst in der Rückschau zeigen. Friederike Heller: „So debil wie die Gesellschaft ist, kann ein wahrer Irrer gar nicht sein.“

Aufführungen im Staatsschauspiel Dresden, Theaterstraße 2, Telefon: 03 51 / 49 13 50. Die Karten kosten zwischen 10 und 22 Euro.

www.staatsschauspiel-dresden.de

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