© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Datendesaster 2.0
Reizthema Vorratsdatenspeicherung: Bundesinnen- und Justizministerium rüsten mit Studien auf, sorgen aber für mehr Unsicherheit
Michael Martin

Es ist eine schier endlose Debatte. Die sogenannte Vorratsdatenspeicherung bleibt ein politischer Zankapfel. Sicherheitspolitiker schreiben ihr seit Jahren eine große Bedeutung im Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Terrorismus zu und bedauern, daß das Bundesverfassungsgericht die deutschen Vorschriften mit Urteil vom 2. März 2010 für verfassungswidrig und nichtig erklärte.

Dabei hatte die Europäische Union in einer bereits 2006 in einer Richtlinie den Mitgliedsstaaten entsprechende Vorgaben gemacht. Das Urteil verpflichtete deutsche Telekommunikationsanbieter zur sofortigen Löschung der bis dahin gesammelten Daten. Zur Begründung gab das Gericht an, daß das Gesetz zur anlaßlosen Speicherung umfangreicher Daten sämtlicher Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste keine konkreten Maßnahmen zur Datensicherheit vorsehe und zudem die Hürden für staatliche Zugriffe auf die Daten zu niedrig seien. Zwar sei eine Vorratsdatenspeicherung nicht grundsätzlich mit dem Grundgesetz unvereinbar, im Hinblick auf das Telekommunikationsgeheimnis der betroffenen Bürger sei aber Voraussetzung, daß die Daten nur dezentral gespeichert und mit besonderen Maßnahmen gesichert würden. Auch müsse die Nutzung der Daten durch Behörden auf genau spezifizierte Fälle schwerster Kriminalität und schwerer Gefahren beschränkt bleiben. Diesen Anforderungen, so Karlsruhe abschließend, werde das angegriffene Gesetz nicht gerecht.

Seit diesem Richterspruch darf in Deutschland nicht mehr ohne Anlaß auf Vorrat gespeichert werden. Und seit diesem Zeitpunkt hat die Diskussion zunehmend noch an Schärfe gewonnen. Die Argumentationslinien laufen dabei mitten durch die Bundesregierung. Die Innenminister der Union sind in aller Regel dafür, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vom liberalen Koalitionspartner ist strikt dagegen beziehungsweise wünscht sich eine gesetzliche Regelung, die die Belange des Otto-Normalverbrauchers schützt. Die FDP will maximal Daten, die bei Telekommunikationsunternehmen ohnehin zu Abrechnungszwecken vorhanden sind, bei konkretem Verdacht „einfrieren“ und somit vor dem Löschen schützen lassen – das sogenannte „Quick-Freeze“-Verfahren.

Leutheusser-Schnarrenberger gab schließlich ein Gutachten beim Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Auftrag. Die von namhaften Juristen erstellte Studie, die vor einigen Tagen vorgestellt wurde, stützt die Sichtweise der Justizministerin. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß die Speicherung nur geringe Bedeutung für die Aufklärung von Straftaten hat. Allerdings verweisen die Autoren darauf, daß ihr Ergebnis nur eine „Momentaufnahme“ sei. „Die Lage ist gegenwärtig gekennzeichnet durch eine noch sehr unsichere statistische Datengrundlage und das Fehlen systematischer empirischer Untersuchungen“, heißt es in den Schlußfolgerungen der Untersuchung.

„Wir glauben, daß das Gutachten unsere Position stärkt, wonach man Daten dann erheben soll, wenn es einen konkreten Anlaß gibt“, sagte Justizstaatssekretär Max Stadler (FDP). Für die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts ist die derzeit von der Union geführte öffentliche Debatte gerade in bezug auf Verbrechen an Kindern und alten Menschen eher ein fadenscheiniger Versuch, die Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen. Dabei handele es sich nämlich nur um eine auf Einzelfälle gegründete Argumentation, die ohne Belege als „typisch“ ausgewiesen werde.

Seit Veröffentlichung der Studie hat sich der Tonfall noch einmal verschärft. Das Innenministerium tat die Studie umgehend als weitgehend unbrauchbar ab. Nach erster Durchsicht zeige sich eine „sehr unsichere empirische Faktenbasis“, die das Gutachten insgesamt in Frage stelle. Die Regierung habe eine EU-Richtlinie umzusetzen. Das Justizressort sei hier in der Pflicht. Ein Ministeriumssprecher betonte, die Vorratsdatenspeicherung habe „hohe Relevanz“ für Ermittler. Ohne das Instrument könnten viele Fälle nicht aufgeklärt werden.

Der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach zweifelte ebenfalls den Sinn der Studie an. Ihn beeindrucke mehr als die Studie die umfangreiche Fallsammlung der Bundes- und Landeskriminalämter, die nachgewiesen habe, daß die Vorratsdatenspeicherung für die Strafverfolgung unerläßlich sei. So kommt das BKA aufgrund einer ebenfalls aktuellen Datenerhebung zu folgendem Fazit: „Die Daten sind bei den Providern oftmals bereits gelöscht, wenn bei den zuständigen Behörden entsprechende Ermittlungen aufgenommen werden.“ Zudem, so die Studie weiter, wurden „cirka 85 Prozent“ nicht beantwortet, da „keine entsprechenden Daten vorhanden waren“. Telekommunikationsunternehmen dürfen laut Gesetzeslage nur dann Daten speichern, wenn sie zur Abrechnung dienen.

Doch Studie hin, Studie her – auffallend ist in diesem Zusammenhang das Schweigen von Bundeskanzlerin Angel Merkel (CDU), die sich bisher aus diesem Thema heraus hielt und dem koalitionsinternen Streit ungerührt zusah. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) forderte die Bundeskanzlerin schließlich zu einem Machtwort auf. Das Verhalten von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sei unverantwortlich und für jeden Innenminister unerträglich.

Unterstützung erhielten die Unionspolitiker von Jörg Ziercke, dem Chef des Bundeskriminalamtes. „Mit der Verschlüsselung und Anonymisierung von Kommunikationsdaten läuft die traditionelle Beweissicherung ins Leere“, sagte der BKA-Präsident. Klassische Polizeiarbeit und Strafrecht stoßen seiner Einschätzung nach im Internetzeitalter zunehmend an ihre Grenzen. Für Ziercke führt kein Weg an der Vorratsdatenspeicherung vorbei. Damit hätte das BKA beispielsweise die Taten der rechtsextremen Zwickauer Terrorzelle einfacher aufklären können, ist sich Ziercke sicher. Neun von zehn Anfragen des BKA gelten nach seinen Angaben nur der Identifizierung von Computern durch die jeweilige IP-Adresse. Aber nur zwei von zehn Anfragen an die Internetprovider würden derzeit beantwortet. Die Ergebnisse der Max-Planck-Studie beurteilte Ziercke äußerst skeptisch: „Aufklärungsquoten als Maßstab herzunehmen, ist der gröbste Hobel, den man ansetzen kann“, beklagte Ziercke. Vielfach ziehe die Polizei Vorratsdaten bereits heran, um Ermittlungsverfahren zu beginnen. Eine Aufklärungsquote stehe erst ganz am Ende. Dementsprechend fehlten die Vorratsdaten bereits an einer Stelle, die von der Studie nicht erfaßt werde. Ziercke kritisierte, die Praktiker aus Polizei und Justiz seien bei der Erstellung der Studie offenbar nicht angemessen zu Wort gekommen.

Dagegen hat der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) an die Fraktionen der Regierungskoalition appelliert, Pläne für eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung nicht weiter zu verfolgen. „Die Studie hat die inhaltliche Begründung für eine Neuauflage der Datenspeicherung vom Tisch gewischt“, sagte DJV-Bundesvorsitzender Michael Konken. „Es gibt jetzt keinerlei Notwendigkeit mehr, über eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung nachzudenken.“ Der DJV lehnt seit Jahren die Vorratsdatenspeicherung ab. Sie zerstört aus Sicht des Verbands die Berufsgeheimnisse von Anwälten, Ärzten, Seelsorgern oder Journalisten. Sie begünstigt Datenpannen und Datenmißbrauch. Für Journalisten untergräbt sie den Schutz von deren Quellen und beschädigt damit im Kern die Pressefreiheit. „Die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung“, erklärte der DJV-Bundesvorsitzende, „würde den Informantenschutz aushebeln und die Basis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Journalisten zerstören.“

Während Politiker von Linkspartei und Grünen die Sichtweise der Justizministerin teilten, kamen aus Reihen der SPD Signale, sich mit der Union auf eine gemeinsame Vorgehensweise zu verständigen. Doch ob es überhaupt zu einer Umsetzung kommt, steht in den Sternen. Denn nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen EU-Ländern wie Tschechien oder Irland herrschen rechtliche Bedenken. Die Europäische Union berät nun Reformen und der Europäische Gerichtshof (EuGH) soll entscheiden, ob die EU-Richtlinie zur verdachtslosen Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten gegen die EU-Grundrechtecharta oder gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Wäre dies der Fall, wäre sie ungültig. Den Sicherheitsbehörden dürfte diese Aussicht nicht gefallen, der in diesem Punkt zerstrittenen Koalition schon eher. Schließlich könnte man das Reizthema auf diesem Weg einfach aussitzen.

www.bka.de

www.mpicc.de

 

Vorratsdatenspeicherung

Als Reaktion auf die Ereignisse vom 11. September 2001 sowie die Terroranschläge von Madrid (März 2004) und London (Juli 2005) hatte die EU im März 2006 eine Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung erlassen. Demnach sind die Telekommunikationsunternehmen verpflichtet, ihre Verkehrsdaten (Telefon, Internet) für mögliche Ermittlungsmaßnahmen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren zu speichern und sie den Sicherheitsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen zur Verfügung zu stellen. Dieser Richtlinie kam Deutschland durch das am 1. Januar 2008 in Kraft getretene „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen“ nach. Es sah eine sechsmonatige Speicherverpflichtung vor, wurde aber vom Bundesverfassungsgericht am 2. März 2010 für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt. Startschuß für eine breitangelegte Diskussion um das Für und Wider, um Freiheit und Sicherheit.

Foto: Aktion gegen Vorratsdatenspeicherung am Brandenburger Tor in Berlin (4. 12. 2011): Datenspeichergegner sind agiler als deren Befürworter

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