© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

„Echte Debatten unerwünscht“
Die Deutschen nerven mit Rechthaberei und stets guten Ratschlägen, für andere Meinungen sind sie jedoch kaum aufgeschlossen – so der kalifornische Kulturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht. Statt wirklicher Streit- herrsche Monokultur in deutschen Landen.
Moritz Schwarz

Herr Professor Gumbrecht, sind Sie vor den Deutschen geflohen?

Gumbrecht: Keineswegs. Deutschland hat mich, wenn man das so sagen kann, immer sehr gut und großzügig behandelt – und das tut es auch weiterhin.

Aber die Deutschen gehen Ihnen „auf die Nerven“, das zumindest haben Sie gegenüber der „Welt“ gesagt.

Gumbrecht: Nun, ich bin Amerikaner geworden, weil ich mich für Kalifornien, nicht weil ich mich gegen Deutschland entschieden habe. Aber ja, es stimmt, es gibt Dinge, die mir in Deutschland auf den Geist gehen. Vor allem wenn ich länger als etwa eine Woche dort bin, fühle ich mich oft unglücklich und deprimiert. Einmal habe ich wie ein Sträfling Striche an die Wand gezeichnet, um mir klarzumachen, wieviel Tage ich noch bleiben muß. Ich gebe zu, das war übertrieben, aber ich habe mich gefragt: „Was ist los?“

Die „Zeit“ zählt Sie zu den „wenigen deutschen Geisteswissenschaftlern, die weltweit Gehör finden“. Deshalb wollen wir wissen: Was hat Sie in Deutschland so bedrückt?

Gumbrecht: Ich bin dann darauf gekommen, daß es wohl am ehesten der mangelhafte Sinn vieler Deutscher, vor allem vieler deutscher Intellektueller, für die Formel ist, die man in angloamerikanischen Ländern beinahe selbstverständlich findet, nämlich: „We agree to disagree.“

Soll heißen?

Gumbrecht: „Wir sind uns darin einig, daß wir uns uneinig sind.“ In Deutschland wird einem, der eine andere Meinung hat, kaum zugestanden, daß diese begründet sein könnte. Statt dessen heißt es dann etwa, diese Sicht sei „nicht wissenschaftlich“ oder: So eine Haltung diene nur dazu, zu spalten.

In der „Welt“ schildern Sie, wie Besucher aus Deutschland dazu neigen, Ihnen die USA zu erklären.

Gumbrecht: Ja, es ist der helle Wahnsinn. Ich hole sie vom Flughafen ab und zwei von drei fangen nach zehn Minuten an, mir Amerika zu erklären. Und wenn ich widerspreche – immerhin lebe ich schon dreiundzwanzig Jahre hier –, stimmt sie das meist kaum nachdenklich, sondern sie machen mir klar, warum ich falschliege. Es ist pure Rechthaberei.

Woher kommt diese?

Gumbrecht: Ich weiß nicht, dieser Duktus beginnt schon, wenn sie ins Auto steigen. Ich fahre einen alten Jeep Wrangler, weil ich dafür ein Faible habe. Vielleicht kommt das aus meiner Kindheit, als in Würzburg die amerikanischen Besatzungssoldaten damit herumfuhren. Bei einem Geisteswissenschaftler aber erwarten viele Leute etwa einen soliden Mercedes oder ein Öko-Auto. Dann geht es los: „Ach, gehen Sie häufig auf die Jagd?“ „Nein.“ „Aber Sie fahren wohl viel querfeldein?“ „Nein.“ „Aber das ist doch ein Vierradantrieb!“ Und so geht es weiter. Dann wird über das „amerikanische Universitätssystem“ gesprochen. Ich antworte, daß es kein solches gibt, da die Unis, weil meist privat, alle voneinander verschieden sind: Berkeley und Stanford etwa haben im Grunde nur gemein, daß sie beide an der Bucht von San Francisco liegen. Und doch fahren sie fort: „Ja, aber das amerikanische Universitätssystem ...“ Dann ist Obama dran, der hat natürlich „furchtbar enttäuscht“.

Hat er nicht?

Gumbrecht: Er hat so viel enttäuscht, wie ein Präsident eben enttäuscht, der mit überzogenen Erwartungen gewählt worden ist. Aber dennoch sind sich die meisten seiner Wähler einig, daß es eine gute Präsidentschaft war: Er hat das neue Gesundheitssystem durchgesetzt, wir sind aus dem Irak abgezogen, die Wirtschaft ist nicht implodiert. Obama wird wohl wiedergewählt werden – vermutlich nicht mit einem glänzenden, aber mir einem klaren Sieg.

Weil seine Herausforderer alle fragwürdig sind, so die meisten deutschen Medien.

Gumbrecht: Ich würde etwa Mitt Romney auch nicht wählen, aber ist er wirklich weniger qualifiziert als die Herausforderer bei Bundestagswahlen in Deutschland? Hand aufs Herz, liegt diese Darstellung nicht vielmehr am Vorurteil vieler Deutscher, ein Mormone könne nicht wirklich intelligent sein? Das ist wie diese Dämonisierung von George W. Bush, der möglicherweise schon der inkompetenteste Präsident in der US-Geschichte war. Aber mitunter hat man ihn mit Adolf Hitler verglichen, und das war nicht zu fassen. Republikanische Kandidaten werden in Deutschland gern unterschwellig als „Nazis“ präsentiert.

Und das sind sie nicht?

Gumbrecht: Ich bitte Sie! Sie dürfen natürlich gerne diese Meinung haben, aber mit den Tatsachen hat das nicht viel zu tun. Republikanische Kandidaten nehmen oft Positionen ein, die außerhalb des sozialdemokratischen Konsensus – und ich meine das nicht im parteipolitischen Sinn – der Bürger in der Europäischen Union liegen. Aber das macht sie doch nicht gleich zu Nazis! Allerdings ist das Bewerberfeld der Republikaner 2012 weniger eindrucksvoll, als das vor vier Jahren der Fall war, als etwa John McCain mitmischte.

Was war an McCain besser?

Gumbrecht: Wenn ich das jetzt sage, werden Ihre Leser in Deutschland das womöglich unsympathisch finden, aber seine Vergangenheit als Soldat war doch recht glorreich.

Sie zählen sich zur Generation Suhrkamp – dürfen Sie da so etwas sagen?

Gumbrecht: Ich habe kein großes Faible für Nationalstolz, aber ich kann ihn anerkennen, sogar eindrucksvoll finden. John McCain hat etwas von dem Patriotismus an den Tag gelegt, den Peter Sloterdijk, so meine ich, in „Zorn und Zeit“ – neben vielen anderen ausgemusterten Verhaltensweisen – rehabilitieren will. Er hatte eine gewisse Aura und hat sich in Debatten ganz gut geschlagen. Auch wenn ich ihn nicht gewählt habe, er war ein respektabler Konservativer.

Und Romney nicht?

Gumbrecht: Er hat nicht McCains Format, aber er ist nicht so schlecht, wie bei Ihnen in Deutschland gerne dargestellt. Aber die meisten deutschen US-Korrespondenten leben wohl in einer Blase, sind elektronisch mehr mit ihren Zeitungen in der Heimat verbunden als mit dem Land hier. – Diese Dämonisierung der Republikaner würde ich übrigens auch zum Phänomen der deutschen Rechthaberei zählen.

Womit wir wieder bei Ihnen und Ihrem Besuch auf der Fahrt vom Flughafen wären.

Gumbrecht: Bis zum Campus in Stanford dauert es etwa fünfzig Minuten, und in der Zeit werde ich durch ein regelrechtes Reeducation-Programm geschleust, ich lerne alles über mein Land neu.

Nochmal die Frage: Woher kommt diese von Ihnen diagnostizierte Rechthaberei?

Gumbrecht: Tja, irgendwie ist die Gesellschaft in Deutschland eben sozialdemokratisiert, will sagen, es gibt diesen Primat des „sozial Vernünftigen,“ an dem alles gemessen wird. Äußert man etwa, daß die Windmühlen überall die Landschaft verschandeln, wird einem entgegengehalten: „Windräder sind ökologisch wichtig!“ Sprich, was richtig ist, läßt keine gegenteilige Meinung oder alternativen Sichtweisen zu. Einen Caspar David Friedrich könnte es im Deutschland von heute jedenfalls nicht mehr geben – und das ist schon ein ästhetischer Verlust, wenn auch vielleicht der Preis für einen ökologischen Gewinn.

In der linken Wochenzeitung „Freitag“ haben Sie geschrieben: „Die einst mutigen Positionen der Intellektuellen sind zur Norm geronnen – wer gegen den Mainstream kämpft, bekommt Probleme.“

Gumbrecht: Denken Sie zum Beispiel an die Sarrazin-Debatte. Ich gebe zu, ich habe sein Buch nicht gelesen, und wenn, würde ich vermutlich seine Meinung nicht teilen – aber um Gottes Willen, so eine Meinung muß man doch haben dürfen! Stattdessen hat man versucht, ihn auszugrenzen, und schließlich hat er gar den Job verloren. In Deutschland ist der Spaß an der Pluralität offensichtlich einfach nicht sehr groß.

Dabei sind wir hierzulande stolz auf unsere Streit- und Debattenkultur.

Gumbrecht: Könnte man nicht sagen, wer wirklich eine „Streitkultur“ hat, der muß so ein Wort nicht erst erfinden. Dieses Wort kommt doch ganz schön steif, unsicher und blaulippig daher. Ich will nicht immer nur die USA anführen, ich bin ja von Haus aus Romanist und kenne deshalb ebenfalls die „Streitkulturen“ in Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien. Dort stürzt man sich gerade mit besonderer Leidenschaft ins Getümmel, wenn es konfrontativ wird. In Deutschland dagegen geht man an dieser Stelle gerne zu einem anderen Thema über. Ich habe immer den Eindruck, daß echte Debatten in Deutschland etwas unangenehmes sind.

Was ist denn eine „echte Debatte“?

Gumbrecht: Na, immer eine Situation der nicht ganz auflösbaren Verschiedenheit und Konfrontation. Den Deutschen ist irgendwie nicht klar, daß es oft verschiedene Konzeptionen gibt, von denen keine ganz illegitim ist. Debatte ist für sie, daß das Richtige das Unrichtige ausräumt. Deshalb sagt Ihre Kanzlerin auch so seltsame Sachen wie, Sarrazins Buch sei „nicht hilfreich“. Dahinter steht die Erwartung, daß Debatte dazu da ist, um zu einer Einigung zu kommen. Deshalb dieses Phänomen der „erwünschten Meinung“ in Deutschland und das Selektieren der „unerwünschten Meinungen“. Unter einer echten Debatte würde ich aber die Konfrontation verschiedener Standpunkte verstehen und nicht das Durchsetzen des einen, angeblich richtigen.

In der ZDF-Sendung „Das philosophische Quartett“ haben Sie gesagt: „Hätte Rousseau recht gehabt ... hätte der Kommunismus geklappt ... und wir würden uns heute alle gut verstehen.“ Sind die Deutschen Herzenskommunisten, träumen sie von der großen Harmonie?

Gumbrecht: Diesen Hang zu Harmonie gibt es zweifelsohne. Ich merke das etwa an vielen unserer deutschen Doktoranden. Nette und kompetente Menschen, aber sie versuchen, wenn sie hierherkommen, ganz besonders locker und amerikanisch zu sein – und sie wissen natürlich auch ganz genau, was amerikanisch ist. Als nächstes versuchen sie, ein besonders sympathisches Bild von Deutschland zu zeichnen. Etwa mit dieser Attitüde: „Türken sind ja in Deutschland die besten Kollegen“ oder: „Meine schwulen Kollegen sind die besten Eltern.“ Und natürlich wollen sie die anderen Studenten, vor allem die aus Israel, dazu überreden, doch unbedingt mal einen Sommer in Berlin zu verbringen. Das ist alles sehr nett, aber irgendwie auch peinlich und angestrengt. Übrigens finden Sie das etwa ebenso in der deutschen Unfähigkeit, Außenpolitik zu machen. Weil die Deutschen in der Vorstellung leben, am besten sei es, eine solche gar nicht zu haben, da Außenpolitik an sich irgendwie schon als unmoralisch gilt.

Wie passen diese „netten“ Deutschen zu Ihrem Vorwurf der Rechthaberei?

Gumbrecht: Oh, man kann sich durchaus auf sehr rechthaberische Weise einbilden, absolut nicht rechthaberisch zu sein. Sicher haben die Deutschen ja die besten Absichten – aber wissen Sie, wenn ich etwa rauche, dann will ich rauchen dürfen und nicht belehrt werden, daß es ungesund ist. Immer diese unberufenen Ratschläge! Sie sehen doch in der Euro-Krise, wie rechthaberisch die Doktrin, „nicht recht haben zu wollen“, rüberkommen kann. Ich glaube, den meisten Deutschen ist gar nicht klar, wie unbeliebt das Land in Europa durch das Verhalten seiner von der Bevölkerung sehr unterstützten Politiker in der Euro-Krise inzwischen geworden ist.

Die Deutschen lernen, in ihrer Geschichte alles falsch gemacht zu haben – Stichwort Hitler. Nun wollen Sie eben alles richtig machen und das heißt, die Welt zu verbessern. Ist die Vergangenheitsbewältigung der Grund für unsere Rechthaberei?

Gumbrecht: Sicher ist das eine Komponente. Aber ich glaube, das hat auch etwas mit der Stellung der Wissenschaft in Deutschland zu tun. Ich vermute, man hat aus der Wissenschaft die Vorstellung übernommen, daß es zu jedem Problem eine richtige Lösung gibt. Die Deutschen haben das von den Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften übertragen. Das aber ist ein Trugschluß, denn Kultur, Gesellschaft und Politik sind keine objektiven Wissenschaften und funktionieren so nicht.

In der „FAZ“ schlagen Sie als Gegenmittel „gegenintuitives Denken“ vor.

Gumbrecht: Was ist Kritik? Als „kritisch“ gilt doch die Entdeckung, Bloßstellung und Korrektur von bis dato übersehenen Irrtümern, Fehlern und Vergehen. „Kritisch“ setzt also eine absolute Grenze zwischen falsch und richtig voraus. Wer sich für kritisch hält, muß also eine – letztlich gegen Zweifel, Skepsis und Fragen immune – Vorstellung davon haben, wie die Welt aussehen sollte. So wird der zeigende Finger der Kritik rasch zum erhobenen Finger der Belehrung. Dem könnte ein Konzept des gegenintuitiven Denkens gegenübergestellt werden. Das heißt sich vorzustellen, wie die Welt auch sein könnte, ohne daraus einen normativen Anspruch abzuleiten. Zum Beispiel statt einfach einen „besseren“ oder gar „den richtigen“ Bundespräsidenten vorzuschlagen, stellt es sich Deutschland ohne Präsidenten oder aber als Erb-Monarchie vor. So würde gegenintuitives Denken die Welt für alle Möglichkeiten offenhalten, statt sie in eine bestimmte Richtung verändern zu wollen. Denn auch eine unwahrscheinlich erscheinende Welt ist doch allemal interessanter und sympathischer als eine kritisch verbesserte.

 

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht, Höchstes Lob erfahren seine Bücher immer wieder in den deutschen Feuilletons. Gelobt wird dort unter anderem Gumbrechts „scharfer Intellekt“ und seine „Lust an Provokation und Polarisierung“. Die Welt nennt Ihn einen „Universaldenker“, die Zeit einen der „wenigen deutschen Geisteswissenschaftler, die weltweit Gehör finden“. Er schreibt regelmäßig für die FAZ, auf deren Netzseite er zudem bloggt, sowie die Neue Zürcher Zeitung. Gumbrecht ist Inhaber des Lehrstuhls Komparatistik in Stanford, Kalifornien, die laut Shanghai-Ranking als drittbeste Universität der Welt gilt. Außerdem hat der Literaturwissenschaftler und Doktorvater von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher eine ständige Gastprofessur an der Universität Montréal, am Collège de France sowie an der Zeppelin University, Friedrichshafen. Geboren wurde er 1948 in Würzburg, 1989 emigrierte er in die USA. Zuletzt erschien sein Band „Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur“ (2011).

Foto: Debatten-Brache Deutschland: „Den Deutschen ist irgendwie nicht klar, daß es oft verschiedene Konzeptionen gibt ... Debatte ist für sie, daß das Richtige das Unrichtige ausräumt. Deshalb sagt ihre Kanzlerin auch so seltsame Sachen wie, Herrn Sarrazins Buch sei ’nicht hilfreich‘ ... Daher das Phänomen der ’erwünschten Meinung‘ in Deutschland – und das Selektieren der unerwünschten.“

 

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