© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/12 03. Februar 2012

Versuch einer letzten Berichterstattung
Späte Erkenntnisse über ein britisches Kriegsverbrechen gegen die havarierte Besatzung des deutschen Zeppelins L 19 vor der Küster der Niederlande
Wolfgang Kaufmann

Am 8. Januar 1916 wurde Vizeadmiral Reinhard Scheer zum neuen Chef der deutschen Hochseeflotte ernannt. Zehn Tage später entwickelte er gemeinsam mit dem Kommandeur der Marine-Luftschiffer-Abteilung, Fregattenkapitän Peter Strasser, Pläne zur Bombardierung Englands mittels möglichst vieler gleichzeitig anfliegender Zeppeline.

Kurz darauf, am 31. Januar, starteten neun Marineluftschiffe zu einem Großangriff auf Fabrikanlagen und militärische Ziele in Mittelengland zwischen Liverpool und London.Mit dabei war auch L 19, welches um 12.15 Uhr in Tondern abhob und unter dem Kommando von Kapitänleutnant Odo Loewe stand. Die Wetterbedingungen schienen zunächst gut, doch bald hatten alle Zeppeline gegen Nebel, Wind und Vereisung zu kämpfen; dazu kamen ständige Probleme mit den technisch noch nicht ausgereiften Motoren.

Trotzdem konnte die Neunerstaffel ihr Zerstörungswerk verrichten und im Verlaufe mehrerer Angriffswellen insgesamt 379 Bomben mit einem Gesamtgewicht von 12,5 Tonnen auf Birmingham, Derby, Stoke-on-Trent, Loughborough und Burton-upon-Trent abwerfen, was siebzig Menschen am Boden das Leben kostete und einen Sachschaden von über 50.000 Pfund verursachte. Ermöglicht wurde das ungestörte nächtliche Kreuzen der schwerfälligen und gut sichtbaren Himmelsgiganten über den Midlands durch ein völliges Versagen der englischen Luftabwehr, welche damals noch der Admiralität unterstand.

Am längsten konnte dabei L 19 über England operieren, nämlich geschlagene neun Stunden. Im Verlaufe dieser Zeit startete Loewe zwei Attacken, in deren Verlauf 1,6 Tonnen Bomben auf Burton-upon-Trent und Vororte von Birmingham fielen, was jedoch in diesem Fall zu keinen schwereren Zerstörungen oder Todesopfern führte. Auf dem Rückflug zur Basis geriet das Luftschiff dann am späten Nachmittag des 1. Februar wegen des wiederholten Ausfalls von drei der vier Maybach-Motoren und heftigem Gegenwind nahe der Insel Ameland in den holländischen Luftraum.

Daraufhin nahm die Küstenwache des an sich neutralen Landes L 19 ungeachtet seiner deutlich erkennbaren Notlage unter Beschuß. Was dann geschah, erfuhr das Kommando der deutschen Hochseeflotte am 3. Februar aus einem aufgefangenen englischen Funkspruch und Zeitungsmeldungen der Gegenseite: Der Zeppelin stürzte wegen des Gasverlustes infolge einiger Treffer in die Nordsee, wonach der englische Trawler „King Stephen“ aus Grimsby an die Unglücksstelle eilte. Allerdings entschied Kapitän William Martin nach einer kurzen Kontaktaufnahme mit den Luftschiffern, keinerlei Versuche zu unternehmen, die 16 Überlebenden, welche auf der bereits halbversunkenen Gashülle ausharrten, vor dem sicheren Tod in der winterkalten Nordsee zu retten. Zur Entschuldigung dieses ebenso kriegs- wie völkerrechtswidrigen Handelns, das auch in Großbritannien auf vielfache Kritik stieß, gaben die Fischer später an, die Schiffbrüchigen hätten sie überwältigen und den Kutter kapern können. Absolution hierfür erhielt die Besatzung der „King Stephen“ vom Bischof von London, der es als höchst verzeihlich bezeichnete, daß man die deutschen „Kindermörder“ habe ertrinken lassen ...

Wann genau die im Stich Gelassenen starben, wurde im August 1916 bekannt, als einige Abschiedsbriefe von Loewe und dessen Leuten in einer Flaschenpost an der schwedischen Kattegat-Küste nahe Göteborg antrieben: „Mit fünfzehn Mann auf der Plattform und dem First des in etwa 3° Ost schwimmenden Körpers des L 19 versuche ich eine letzte Berichterstattung (...). Am 2. Februar 1916 nachmittags, etwa ein Uhr – ist wohl die letzte Stunde.“ Zugleich bestätigten die Schreiben, was man über das Verhalten der Besatzung der „King Stephen“ wußte. Dies war insofern von Belang, als der Trawler bereits vier Monate zuvor, am 23. April, vom deutschen Torpedoboot G 41 aufgebracht und versenkt worden war, wobei Martin mitsamt seiner Mannschaft in Gefangenschaft geriet. Allerdings eröffneten die Deutschen nie ein Verfahren gegen die englischen Fischer.

Dabei steht heute fest, daß der englische Kapitän noch wesentlich unethischer gehandelt hatte, als man seinerzeit meinte. Wie Colin Walker, Redakteur des Grimsby Evening Telegraph, bereits 1964 anläßlich eines Interviews mit zwei ehemaligen Besatzungsmitgliedern der „King Stephen“ herausfand, unterband Martin nicht nur jedweden Rettungsversuch, sondern gab zudem auch noch Loewe und der britischen Marine, welche mittlerweile nach dem Wrack von L 19 suchte, ganz bewußt eine falsche Position an, die weit von der tatsächlichen Absturzstelle entfernt lag.

Als Grund hierfür kommen nach Lage der Dinge nur zwei Umstände in Frage: entweder fischte der englische Trawler verbotenerweise in den niederländischen Hoheitsgewässern, wo weder Minen noch deutsche Kriegsschiffe zu befürchten waren, oder er befand sich auf einer Schmuggelfahrt. Auf jeden Fall hatte Martin die Rettung der havarierten Zeppelinfahrer ganz offenkundig mit voller Absicht sabotiert, weil sein Schiff zur falschen Zeit am falschen Ort war und er keine Zeugen hierfür haben wollte.

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