© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/12 03. Februar 2012

Außer Spesen nichts gewesen
Die gescheiterte Mission des britischen Diplomaten Richard Haldane in Berlin von 1912
Heinz-Joachim Müllenbrock

Mitten im Winter, im Februar 1912, reiste der britische Kriegsminister Lord Haldane nach Berlin, um die Möglichkeiten einer Verbesserung der deutsch-englischen Beziehungen zu sondieren – ein Vorgang, der politischer Dramatik nicht entbehrte und entsprechende mediale Aufmerksamkeit fand.

Warum ein solcher Schritt gerade zu diesem Zeitpunkt? Im Jahr zuvor hatte die zweite Marokkokrise die Entfremdung zwischen beiden Ländern offenkundig gemacht; Lloyd Georges Mansion-House-Rede im Juli 1911 mit ihrer brüsken Wendung gegen Deutschland und ihrer profranzösischen Einseitigkeit hatte die Gefahr einer kriegerischen Konfrontation in Sichtweite gerückt. Bereits seit dem Herbst 1911 streckte der deutsche Reichskanzler Theobald v. Bethmann Hollweg über Vermittlungsdienste des Hamburger Reeders Albert Ballins und Sir Ernest Cassels seine Fühler nach England aus, um die Entsendung eines Regierungsmitglieds nach Berlin zu erwirken. Der immer stärker anschwellende Chor der über die Zuspitzung der deutsch-englischen Differenzen bestürzten und deshalb eine Revision der britischen Außenpolitik fordernden Kritiker Sir Edward Greys – der Außenminister sah sich einem heftigen Bombardement eines großen Teils der liberalen Presse ausgesetzt und fand fast nur noch in oppositionellen konservativen Organen Unterstützung – schien eine günstige Konstellation für einen solchen Schritt geschaffen zu haben.

Grey, Deutschland gegenüber mit Vorurteilen behaftet, nahm die Anregung aus Berlin positiv auf, wohl hauptsächlich, um seinen innerparteilichen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit Richard Burdon Viscount (seit 1911) Haldane wurde ein führender Politiker mit dem Auftrag betraut, der deutschem Geistesleben tief verbunden war. Haldane, der 1874 bei Hermann Lotze in Göttingen Philosophie studiert hatte und später Schopenhauer übersetzte, gehörte zu den englischen Neuhegelianern. Als Freund deutscher Wissenschaft setzte er sich für eine Reform der englischen Universitäten nach deutschem Vorbild ein. Insofern war die Entsendung des germanophilen Haldane eine symbolische Geste.

Die vom 8. bis zum 12. Februar 1912 stattfindenden, in freundlicher Atmosphäre zum großen Teil auf deutsch geführten Berliner Unterredungen, über die sich Haldane in seinem Buch „Before the War“ (1920) in sachlicher Form ausgelassen hat, stießen schnell an realpolitische Grenzen. Der von viel zu hoch gestochenen Erwartungen erfüllte Bethmann Hollweg, dem Haldane ehrlichen Friedenswillen bescheinigt hat, suchte seinem Gesprächspartner die britische Verpflichtung zu bedingungsloser Neutralität im Kriegsfall abzuringen. Die ablehnende Haltung Haldanes, der ohnehin nur mit einer Sondierungsvollmacht und nicht mit einem Verhandlungsmandat ausgestattet war, offenbarte den prinzipiellen Dissens zwischen beiden Seiten.

Der Reichskanzler, den geschmeidigere Gegenvorschläge wie derjenige englischer Neutralität im Fall eines unprovozierten Angriffs auf Deutschland von dritter Seite nicht zufriedenstellten, war von der illusorischen Annahme ausgegangen, England aus seiner Bindung an die Entente herauslocken zu können. Die Reaktion des entsprechend instruierten Haldane zeigte, daß England keineswegs beabsichtigte, eine grundsätzliche Neuorientierung seiner Außenpolitik einzuleiten, und nicht bereit war, die Entente mit Frankreich und damit seine traditionelle Gleichgewichtspolitik preiszugeben. Selbst bei Überdenken seiner bisherigen Linie hätte England aufgrund der seit 1906 mit Frankreich getroffenen geheimen Militärkonventionen, über die selbst der größte Teil des liberalen Kabinetts nicht informiert war, kaum Spielraum für eine Öffnung zum Deutschen Reich gehabt.

Auch der zweite Gesprächskomplex brachte keine Übereinstimmung. Einer Begrenzung der Flottenrüstungen galt das primäre Interesse der britischen Regierung, die eine finanzielle Entlastung für sozialpolitische Maßnahmen erhoffte. Zwar schien sich in den Unterredungen zwischen Kaiser Wilhelm II., Haldane und dem Staatssekretär des Reichsmarineamtes Alfred von Tirpitz vorübergehend eine einvernehmliche Lösung abzuzeichnen, doch als die englische Admiralität den von Haldane zurückgebrachten Text der deutschen Flottennovelle eingehend prüfte, entdeckte sie außer der Frage der Mehrbauten so gravierende Fallstricke, daß die Londoner Regierung das Zustandekommen eines etwaigen, wie auch immer gearteten politischen Abkommens („Agreement“) von dem völligen Verzicht auf die Novelle abhängig machte. Diese für die deutsche Seite inakzeptable rigorose Forderung spiegelte wohl auch die Enttäuschung der englischen Politik über das Scheitern eines ihr vordringlichen Anliegens.

Die im März 1912 wieder aufgenommenen und noch vor Kriegsausbruch in eine vertragliche Vereinbarung (1913) mündenden Kolonialverhandlungen mit England über eine eventuelle Teilung der Kolonien der schwächelnden Kolonialmacht Portugal in Afrika (Angola, Mosambik, Guinea) und des Kongo ließen ein gewisses Maß an Verständigungsbereitschaft erkennen. Einen grundlegenden Wandel in den beiderseitigen Beziehungen konnten sie, ebensowenig wie die Regelung der Bagdadbahnfrage (1914), nach dem Scheitern der beiden Berliner Hauptgesprächskomplexe – Neutralitätsvertrag und Flottenrüstungsbegrenzung – nicht mehr herbeiführen. Der seit Ende 1912 amtierende deutsche Botschafter Karl Max Fürst von Lichnowsky übersah in seinem unangebrachten Optimismus geflissentlich, daß sich Englands Verankerung in der Tripelentente mit Frankreich und Rußland sogar noch verfestigte.

So verlockend es gerade im Fall der Haldane-Mission erscheinen mag, das von Historikern nicht ohne Erkenntnisgewinn betriebene Genre virtueller Geschichte bzw. alternativer Geschichtskonstruktionen aufzugreifen, bei näherem Hinsehen bietet sich der Frage „Was wäre geschehen, wenn …“ hier kein fruchtbarer Ansatzpunkt. In Anbetracht der dem englischen Abgesandten aus London mitgegebenen Auflagen und der überzogenen Erwartungen seiner überdies individuelle Akzente setzenden Berliner Gesprächspartner war Geschichte in dem Augenblick nicht mehr offen.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.

Foto: Britischer Marschall John French und Richard Haldane (r.), um 1912: Bestürzt über die Zuspitzung deutsch-englischer Differenzen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen