© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/12 03. Februar 2012

Das Widerstandsrecht gegen die Europäisierung
Entkerntes Gehäuse
Björn Schumacher

Weitere Kompetenzabtretungen an die Europäische Union stoßen an rechtliche Grenzen. Im Lissabon-Urteil vom Juni 2009 erklärte das Bundesverfassungsgericht die „Verfassungsidentität“ des Grundgesetzes für unantastbar. Deutschland dürfe als souveräner Nationalstaat ebensowenig verschwinden wie die Garantie der Menschenwürde, die Grundrechtsartikel und die Staatszielbestimmungen Demokratie, Rechts- und Sozialstaat. Nimmt man den Karlsruher Anspruch dazu, Kompetenzüberschreitungen von EU-Behörden als „ausbrechende Rechtsakte“ für ungültig zu erklären, dann könnte das Lissabon-Urteil eine Brandmauer gegen die grassierende Internationalisierung des Politischen errichtet haben.

Deutschlands auf die EU fixierten Machteliten fühlten sich düpiert. Ihr im Mai 2009 zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes (GG) vollmundig bekundeter Verfassungsenthusiasmus verflog endgültig, als der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, nachlegte: „Mehr Europa läßt das Grundgesetz kaum zu. Wollte man diese Grenze überschreiten, müßte Deutschland sich eine neue Verfassung geben. Dafür wäre ein Volksentscheid nötig.“ In den Fokus rückt Artikel 146 des Grundgesetzes: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Horst Dreier, Würzburger Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht, deutet den Artikel als Option, „den Status der Bundesrepublik Deutschland so auszugestalten, daß aus dem souveränen Nationalstaat der bloße Mitgliedsstaat eines europäischen Bundesstaats würde“. Die Bundesrepublik Deutschland würde sich zum künftigen europäischen Einheitsstaat in etwa so verhalten wie der Freistaat Bayern zur jetzigen Bundesrepublik Deutschland.

Im Gegensatz zu Voßkuhle fordert das SPD-Mitglied Dreier für die neue Verfassung keinen Volksentscheid. Ein solcher gehöre nicht zwingend zum Procedere des Artikels 146 und habe ungeachtet der Grundgesetzpräambel auch 1949 nicht stattgefunden. Dreier verweist auf das Konvents- und das Nationalversammlungsmodell. Während ein Konvent einen Verfassungsentwurf ausarbeitet, der dem Volk als Souverän zur Abstimmung vorgelegt wird, wählt das Volk zwar die Abgeordneten einer Nationalversammlung, stimmt über die von ihr beschlossene Verfassung aber nicht mehr ab.

Dreiers Essay befriedigt nicht. Ins Leere geht erstens sein Hinweis auf die Entstehung des Grundgesetzes. Sie entsprach weder dem Konvents- noch dem Nationalversammlungsmodell. Maßgebender Schöpfer des Grundgesetzes war der von den Ministerpräsidenten der Länder auf alliierte Anweisung eingesetzte Parlamentarische Rat, über dessen Entwurf das Volk richtigerweise hätte abstimmen müssen. Die als Gralshüter der Demokratie gefeierten Westalliierten wollten das aber nicht.

Zweitens unterschlägt Dreier die Frage, wer die Verfassung des „europäischen Bundesstaats“ initiieren sollte. Abgesehen davon, daß kaum ein Nichtdeutscher den Einheitsstaat will, fehlt es an einem dazu berufenen europäischen Staatsvolk. Diese These liegt auch dem Lissabon-Urteil zugrunde. Demos im hier maßgebenden vorpolitischen, aus der Lehre vom Gesellschaftsvertrag abzuleitenden Sinn sind Personen, die sich als Sprach-, Kultur- und Schicksalsgemeinschaft verstehen und ihre Angelegenheiten in einem öffentlichen Prozeß gemeinsamer politischer Willensbildung regeln wollen. Das kann sich nur in einem kulturell homogenen Gemeinwesen vollziehen. Die in den Feuilletons allgegenwärtigen Jürgen Habermas, Heribert Prantl oder Hans-Ulrich Wehler, die ihr Phantom „europäische Bürgergesellschaft“ zum Demos erheben wollen, bilden eine Randgruppe. Europaweit ist die kollektive Identität eindeutig national geprägt.

Ohne Volk gibt es keine Volksherrschaft. Horst Dreiers „europäischer Bundesstaat“ wäre keine Demokratie, sondern eine von Finanzmärkten und Bankenlobbyisten gelenkte Diktatur. Das deutsche Volk würde über den Verfassungsartikel 146 die demokratische Bundesrepublik Deutschland zum Gliedstaat eines diktatorischen Einheitsstaats machen. Dieser absurde Gedanke sollte umgehend verworfen werden.

Drittens behauptet Dreier, die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ (Artikel 79 Absatz 3 GG) gelte nicht für eine neue Verfassung gemäß Artikel 146. Ein solcher Positivismus verleugnet den staatsethischen Wert des in der „Ewigkeitsklausel“ zementierten Demokratieprinzips. Dieses natur- bzw. vernunftrechtliche Prinzip bindet auch den Verfassungsgeber nach Artikel 146 des Grundgesetzes. Jeder Versuch, Deutschland als Gliedstaat einer übergeordneten Diktatur zu konstituieren, wäre damit unvereinbar. Konkrete Vorschläge zum Zustandekommen einer neuen „europafreundlichen“ Verfassung macht FAZ-Redakteur Georg Paul Hefty, der lange als konservativer Exponent der Zeitung galt. Bei allem stilistischen Schliff ist Hefty ein CDU-Propagandist, der jeden Schwenk der ausgemergelten Kanzlerinnenpartei als Magna Charta politischer Weisheit verkauft. Beim Thema europäischer Einheitsstaat klingt er wie Merkels Taktgeber. „Soll am Ende tatsächlich ein Volksentscheid stehen?“ fragt Hefty suggestiv. Und weiter: „Müssen zum Beispiel 50,01 Prozent der Bürger am Volksentscheid teilgenommen haben?“

Der von ihm ohnehin nur geduldete Volksentscheid soll also kein echtes Referendum sein. Er entlarvt sich als pseudodemokratische Placebo-Veranstaltung, die vor einer Pervertierung des Begriffs Staatsvolk nicht zurückschreckt. „Im Lande lebende EU-Bürger“ gehören nicht zum Demos, haben hier keine verfassungsgebende Gewalt und dürfen konsequenterweise auch nicht über deutsche Verfassungen abstimmen.

Kernproblem ist die gebrochene nationale Identität. Wer wie Merkel, Schäuble oder vor ihnen Kohl und Genscher die deutsche Einheit zum Durchlauferhitzer für die „Vereinigten Staaten von Europa“ degradiert und den Demos mißachtet, kann naturgemäß auch die Demokratie kaum ertragen. Provoziert diese Abkehr vom Staatsbegriff der Neuzeit kulturrelativistische Kettenreaktionen? Durchaus: Hefty kann sich „vorstellen“, daß in einer neuen Verfassung „der bisherige Schutz der staatlichen Ordnung für ‘Ehe und Familie’ aufgegeben wird und an deren Stelle ‘Lebensgemeinschaften’ treten“.

Habermas und seine Gefolgschaft hadern indes immer stärker mit der EU. Endlich merken sie, daß der heraufdämmernde Einheitsstaat der Schuldenmacher und Finanzjongleure die Begriffe Demokratie und „europäische Bürgergesellschaft“ bestenfalls milde belächelt. Die oft beklagten „demokratischen Defizite“ in der Zusammensetzung und den Abstimmungsmodalitäten der EU-Organe sind kein vorübergehender Webfehler, sondern ein dauerhaftes Struktur-element der Eurokratie.

Erstaunlicherweise fragt kaum jemand nach einem Widerstandsrecht europäischer Völker gegen die Abschaffung ihrer souveränen Nationalstaaten. Anscheinend wurde das Widerstandsrecht zum Alleinstellungsmerkmal einer weltbürgerlich-utopistischen Linken, die den Nationalstaat als Hort des Bösen bekämpft. Widerstand beziehungsweise „ziviler Ungehorsam“ manifestiert sich nach linker Doktrin in Sitzblockaden gegen Castor-Transporte, Bahnhofsumbauten und legale Demonstrationen islamkritischer oder an deutsche Kriegsopfer erinnernder Bürger. Ökojakobinismus, technisches Halbwissen und „antifaschistische“ Verblendungen geben sich hier ein Stelldichein.

Mit „zivilem Ungehorsam“ hat das hier interessierende Widerstandsrecht nur geringe Schnittmengen. Es streitet nicht gegen Gesetze oder Verwaltungsakte des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, es will ihn verwirklichen. Dieses Widerstandsrecht ruht auf einem natur- bzw. vernunftrechtlichen Fundament und fand markante Ausprägungen im Freiheitskampf des 20. Juli 1944 und der friedlichen Revolution vom Herbst 1989. Ist aber Widerstand innerhalb einer Diktatur zur Herstellung von Demokratie und Freiheit (natur)rechtlich erlaubt, dann muß Entsprechendes in einer noch existierenden Demokratie gelten, die durch den Ausverkauf ihrer staatsethischen Werte in eine Diktatur zu kippen droht.

Vor diesem Hintergrund wurde 1968 das Widerstandsrecht (Artikel 20 Absatz 4) in das Grundgesetz eingefügt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Das Naturrecht auf Widerstand ist seitdem auch ein Grundrecht unserer Verfassung, das bislang allerdings nicht befriedigend diskutiert wird. Josef Isensees Standardwerk „Das legalisierte Widerstandsrecht“ (1969) offenbart Ungereimtheiten.

Scharfsinniger analysiert der Göttinger Rechtstheoretiker Ralf Dreier in einem Beitrag zu Peter Glotz’ Sammelband „Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat“ (1983). Auch der Staats- und Wirtschaftsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider argumentierte mit dem Widerstandsrecht, als sein damaliger Mandant Peter Gauweiler 2005 gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ klagte. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterblieb, weil der „Verfassungsvertrag“ an Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte.

Trotz Schachtschneiders lesenswerter Klageschrift liegt der Brennpunkt des Artikels 20 Absatz 4 GG nicht in förmlichen, auf gerichtliche Abhilfe zielenden Rechtsbehelfen. Dessen Verfassungsgrundlage bildet eher die Rechtsweggarantie im Artikel 19 Absatz 4. In Betracht käme der Widerstand ohnehin nur, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“, wenn also die Bundesregierung oder andere Organe staatsstreichartig Entscheidungen der Verfassungsrichter mißachten oder dessen schützender Arm im Trommelfeuer der Eurokraten erlahmen sollte. Zudem wäre der aktive oder gar mit physischem Zwang verknüpfte Widerstand ein nach erstem Anschein illegales Verhalten, dessen verfassungsrechtliche Begründbarkeit vom Ausmaß der Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und der Aussichtslosigkeit des Einsatzes milderer Mittel abhängen würde. Das Widerstandsrecht des Artikel 20 Absatz 4 GG unterliegt einem strikten Verhältnismäßigkeitsgebot.

Das sollte Verfassungsrechtler aber nicht daran hindern, realistische Widerstandshandlungen wie spontane Arbeitsniederlegungen, Generalstreiks oder Blockaden von Regierungsgebäuden einer Vorabwürdigung zu unterziehen. Hilfreich dürfte ein Blick über die Grenzen sein: Wie beurteilen Juristen in Nachbarländern ausufernde Kompetenzverlagerungen an die EU und die damit verbundenene Entdemokratisierung? Gibt es dort Debatten zu einem Widerstandsrecht? Die Völker der EU-Staaten sitzen hier in einem Boot − ein europäischer Einigungsprozeß der unbürokratischen Art! Daß sie die Entmachtung ihrer Vaterländer ohne Gegenwehr erdulden werden, ist unwahrscheinlich.

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist und hat die Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“ (Graz 2008) verfaßt. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über den Islam und das Grundgesetz („Das Elend der Verharmloser“, JF 38/11).

Foto: Wahrer Verfassungsschutz gesucht: Wer schützt das Grundgesetz vor dem Durchgriff der Eurokraten?

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