© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Mythos mit Sprengkraft
Nordirland: Geteilte Erinnerung an den 40. Jahrestag des „Bloody Sunday“
Martin Schmidt

Am 30. Januar ist es genau vier Jahrzehnte her, daß in Nord-irland am „Bloody Sunday“ (Blutigen Sonntag) 26 friedliche Menschenrechtsdemonstranten und auch völlig unbeteiligte Personen von britischen Fallschirmjägern niedergeschossen wurden. 13 Männer, darunter sechs Minderjährige, starben sofort oder kurze Zeit später und ein weiterer nach vier Monaten. Zwei Verletzte waren von Militärfahrzeugen überrollt worden.

Das Geschehen spielte sich in der sogenannten Bogside von Derry bzw. Londonderry ab, wie die zweitgrößte Stadt der zu Großbritannien gehörenden Provinz offiziell heißt. Die Täter wurden drei Monate später im Zuge einer amtlichen britischen Untersuchung von jeder Schuld freigesprochen und ihr Handeln unter Berufung auf Armeeangaben als Reaktion auf Schüsse und Nagelbomben-Attacken aus den Reihen der zwischen 3.000 und 30.000 Demonstrationsteilnehmer ausgelegt. Aufbauend auf dieser Rechtfertigung wies das „Widgery Tribunal“ den Vorwurf einer Verantwortung der politischen Führung in London strikt zurück.

Der nicht genehmigte Marsch der Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) ist im Zusammenhang mit den Ende der sechziger Jahre einsetzenden Massenprotesten gegen die seit der Gründung des Freistaates Irland 1922 bestehende Teilung der Grünen Insel zu sehen. Die Unruhen, die auch im deutschen Sprachraum als „Troubles“ bekannt sind, wurden von Gruppen wie der für einen friedlichen Wandel eintretenden NICRA getragen, gingen aber eben auch von der Provisional Irish Republican Army, kurz: IRA aus, also den ihre Wiedervereinigungsforderungen mit Waffengewalt vertretenden (in der Regel katholischen) Republikanern.

Bereits 1969 war es in Derry nach einer von den örtlichen unionistischen „Apprentice Boys“ inszenierten Parade zu dreitägigen Krawallen („Battle of the Bogside“) mit über zwanzig Toten gekommen. Im Laufe des Jahres 1971 starben in Nordirland durch IRA-Heckenschützen und zahlreiche Bombenanschläge erstmals auch Dutzende von Angehörigen der britischen Armee. Diese erschienen in den Augen der republikanischen Ultras ähnlich verachtenswert wie die als Marionetten der london-treuen Unionisten/Loyalisten wahrgenommene Regionalpolizei Royal Ulster Constabulary (RUC) oder die noch verhaßteren protestantischen paramilitärischen Formationen UDF und UVF.

Die IRA und die ihr nahestehende Partei Sinn Féin schlachteten den „Bloody Sunday“ propagandistisch aus und machten sich das Entsetzen der seinerzeit ein gutes Drittel der nordirischen Bevölkerung ausmachenden Katholiken angesichts des „Unrechtsurteils“ der Untersuchungskommission zunutze. Zahlreiche Zeugenaussagen von Teilnehmern über den (weitgehend) friedlichen Charakter des Demonstrationszuges widersprachen den Darstellungen Londons und der unionistischen Konfliktpartei. Obwohl auf dem durch Barrikaden abgesperrten radikal-republikanischen Demonstrationsgebiet des sogenannten „Free Derry“ an besagtem 30. Januar zweifellos IRA-Aktivisten anwesend waren, die eine Eskalation des Marsches in Kauf nahmen oder diese möglicherweise gezielt zu provozieren suchten, stand fest, daß kein einziger Soldat verletzt worden war und etliche der Opfer Schußwunden im Rücken aufwiesen.

Der Nordirlandkonflikt verschärfte sich im Gefolge des „Bloody Sunday“ deutlich, zumal die IRA wenig später mehrere Racheanschläge verübte, denen wiederum Gewalttaten der unionistischen Paramilitärs folgten. In keinem Jahr waren mehr Opfer zu zählen als 1972, und das Vorgehen der britischen Armee in Derry diente den extremistischen Republikanern dauerhaft als Legitimation für ihr Ziel, die Einheit der Insel mit (Gegen-)Gewalt herbeizuführen. Eine Spirale des Terrors mit Tausenden von Toten begann und nahm erst mit dem sogenannten Karfreitagsabkommen von 1998 ihr Ende.

Auch in Kunst und Kultur hatte der 30. Januar 1972 Folgen. Die irische Gruppe Wolfe Tones dichtete das Rebellenlied „Sunday Bloody Sunday“ als Kampfansage an die Briten. Weltweite Bekanntheit erlangte der gleichnamige Hit der irischen Rockgruppe U2, „Sunday Bloody Sunday“ und „The Luck of the Irish“ von John Lennon sowie „Give Ireland back to the Irish“ von Paul McCartney. Eine Reihe von TV-Dokumentationen und Spielfilmen widmete sich den blutigen Ereignissen.

„Bloody Sunday“ wurde zum zeitgeschichtlichen Mythos und lud sich immer stärker politisch auf, was die britische Zentralregierung massiv unter Druck setzte, sie aber auch in der Auffassung bestärkte, angesichts des drohenden Gesichtsverlusts nicht nachgeben zu können. So kam es als Reaktion auf die andauernden Proteste von Angehörigen erst Anfang 1998 zu einer neuerlichen, diesmal juristischen Untersuchung unter Leitung von Lord Saville of Newdigate.

Dieses vom frisch gewählten Premierminister Tony Blair in Gang gesetzte „Saville Inquiry“ umfaßte über 900 Zeugenbefragungen und zog sich mehr als zwölf Jahre hin, um am 15. Juni 2010 mit einer völligen Rehabilitierung der Opfer zu enden. Die Toten und Verletzten seien allesamt nicht bewaffnet gewesen, heißt es in dem 5.000seitigen Abschlußbericht, weshalb die Schüsse unrechtmäßig und unentschuldbar waren („the killings were ... unjustified and unjustifiable“). Bis zur Eröffnung des Feuers seien keine Steine oder Benzinbomben aus den Reihen der Demonstranten geworfen worden, betonten die Richter entgegen der bisherigen offiziellen Sprachregelung. Entsprechend massiv fiel die Belastung zumindest einiger der beteiligten dreißig Fallschirmjäger aus, die „die Kontrolle verloren“ hätten.

Großbritanniens konservativer Premierminister David Cameron sah sich am 15. Juni 2010 zu einer Entschuldigung im Namen seiner Regierung und der Bitte um Verzeihung für die Untaten der britischen Soldaten veranlaßt. Eine Geste, die einer Meinungsumfrage zufolge von 61 Prozent aller Briten und 70 Prozent der Nordiren gutgeheißen wird. Selbst U2-Sänger Bono, der dem Lied „Sunday, Bloody Sunday“ (1983) seine Stimme gegeben hatte, bekundete tiefen Respekt, indem er Cameron in einer Kolumne für die New York Times eine Wandlung „vom Ministerpräsidenten zum Staatsmann“ attestierte. Am 22. September 2011 folgte der Beschluß Londons, die Opfer zu entschädigen. Allerdings reichte das nicht allen Betroffenen; zwei Schwestern eines Getöteten lehnten jegliche britische Zahlungen als „Blutgeld“ ab, einige der Angehörigen kündigten an, keine Entschädigungen beantragen zu wollen, ehe es nicht zu Prozessen gegen die verantwortlichen Soldaten komme.

Wie hochpolitisch Geschichtsmythen gerade im Nordwesten Europas noch immer sind, läßt sich derzeit insbesondere bei Irlands keltischem Nachbarn beobachten, wo die Regionalregierung der Schottischen Nationalpartei (SNP) für den Herbst 2014 eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit angesetzt hat – ausgerechnet in jenem Jahr, in dem sich der größte militärische Sieg über die Engländer in der Schlacht von Bannockburn unter Robert the Bruce (bekannt aus dem William-Wallace-Drama „Braveheart“) zum 700. Mal jährt.

Obwohl sich die Lage in Nordirland seit Ende der Neunziger – zumindest oberflächlich – beruhigt hat, ist das Grundproblem der Teilung Irlands nach wie vor existent und rückt spätestens mit dem (nahenden) Gewinn der demographischen Mehrheit durch die Katholiken auf die Tagesordnung. Schon jetzt ist die republikanische Sinn Féin ein mitbestimmender Machtfaktor der nordirischen Politik und gewinnt – auch das ist bezeichnend für die fortbestehende Aktualität der „irischen Frage“ – nach jahrzehntelanger Marginalisierung immer mehr Einfluß in der Republik Irland.

Foto: Britische Soldaten setzen während des „Bloody Sunday“ gegen nordirische Demonstranten CS-Gas ein, Derry 1972: Etliche der Opfer wiesen Schußwunden im Rücken auf; Megan Bradley, Enkelin von Jim Wray, demonstriert 2010 mit anderen Angehörigen irischer Opfer: Der „Bloody Sunday“ wurde zum zeitgeschichtlichen Mythos und lud sich immer stärker politisch auf

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