© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Verbrechen lohnt sich
Organisierte Kriminalität: Kriminelle Rockergruppen geraten zunehmend ins Visier der Ermittler
Henning Hoffgaard

Es ist kalt. Die Temperaturen liegen knapp über dem Gefrierpunkt. Dennoch zieht eine große Gruppe von martialisch aussehenden Mitgliedern der Bandidos am vergangenen Samstag gegen 23 Uhr durch die Straßen der Mönchengladbacher Altstadt. Die Clubsymbole sind gut sichtbar auf den Kutten angebracht. Sie lassen niemanden im Zweifel, wer sie sind. Ziel ist eine Diskothek in der Waldhausener Straße. Dort trifft die Gruppe, so schildert es der Polizeibericht, auf eine gleich große Anzahl von Hells-Angels-Mitgliedern. Zehn Minuten später sind vier Rocker verletzt, einer von ihnen lebensgefährlich. Ein Großaufgebot von Polizei und Rettungskräften rückt an und sperrt die halbe Innenstadt. Ob es sich dabei um eine verabredete Schlägerei oder territoriale Konflikte handelt, ist unklar.

Fest steht, in immer mehr Städten eskalieren die Konflikte zwischen den verfeindeten Gruppen. Daran hat auch ein „Rockerfrieden“ aus dem Jahr 2010 zwischen den Chefs der Hells Angels und der Bandidos kaum etwas geändert. Gut 3.500 Mitglieder zählen diese Rockergruppen in Deutschland. Sie kontrollieren in vielen Städten ganze Straßenzüge und verdienen ihr Geld durch Erpressung, Zuhälterei, Drogenhandel, im Sicherheitsgewerbe und sind längst eine feste Größe in der Organisierten Kriminalität.

In fast jedem zehnten der 606 Ermittlungsverfahren wegen Organisierter Kriminalität im Jahr 2010 waren Rocker beteiligt. Tendenz steigend. Der Großteil davon waren Erpressungsdelikte und Straftaten gegen das Leben. Also Körperverletzungen, versuchter Mord und Totschlag. Obwohl Bandidos, Hells Angels, Outlaws und Gremium die öffentlichste Form sind, hat sich die Organisierte Kriminalität in den vergangenen Jahren deutlich ausdifferenziert. In 85 Prozent der Verfahren 2010 waren nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) international agierende Gruppen ins Visier der Ermittler geraten. 63,5 Prozent der etwa 10.000 Tatverdächtigen hatten keine deutsche Staatsangehörigkeit. Rechnet man die deutschen Staatsbürger, die mit einer anderen Staatsangehörigkeit geboren wurden, dazu, sind fast 70 Prozent der Verdächtigen nichtdeutscher Herkunft. Während der Anteil der Deutschen abnimmt, steigt er insbesondere bei Türken, Serben, Libanesen, Rumänen und Vietnamesen deutlich an. Der Anteil der Italiener ist mit 3,5 Prozent recht gering. Die Mafia nutzt Deutschland derzeit vor allem noch als Rückzugs- und Ruhegebiet. Den entstandenen Schaden allein in den bekanntgewordenen Fällen beziffert das BKA auf 1,65 Milliarden Euro. Mehr als 900 Millionen Euro Gewinn erwirtschafteten die gut organisierten und hoch professionalisierten kriminellen Organisationen.

Der überwiegende Teil der ermittelten Delikte im Bereich der Organisierten Kriminalität entfällt mit 40 Prozent auf den Rauschgifthandel. Mit einigem Abstand folgen dann die Wirtschaftskriminalität (14,5 Prozent), Eigentumsdelikte (11,9 Prozent) und Steuer- und Zollkriminalität (8,4 Prozent). Daß die Zahl der Verfahren von 787 im Jahr 2001 auf 606 im Jahr 2010 zurückgegangen ist und erst in den vergangenen drei Jahren wieder leicht ansteigt, sagt dabei wenig über das Dunkelfeld und die wahre Dimension der Verbrechen aus. „Organisierte Kriminalität ist Kontrollkriminalität“, sagte BKA-Chef Jörg Ziercke am Montag auf dem vom Bund Deutscher Kriminalbeamten (BDK) organisierten 6. Berliner Sicherheitsgesprächen unter dem Motto „Rocker, Mafia, Geldwäscher – Deutschland fest im Griff der Organisierten Kriminalität!?“

Soll heißen, nur wenn genügend Personal in die Untersuchungen investiert wird, stellen sich auch Erfolge ein. In diesem Sinne bedeutet eine zurückgehende Anzahl von Ermittlungsverfahren keineswegs auch einen Rückgang der Organisierten Kriminalität. Gerade durch die zunehmende Computerkriminalität und das sogenannte „Phishing“, bei dem ahnungslosen Bankkunden die Paßwörter gestohlen und danach die Konten leergeräumt werden, sind ganz neue Deliktarten entstanden, die zudem wenig über die Zahl der Betroffenen aussagen.

Ein Fall von „Phishing“ kann Tausende von Opfern fordern, wird jedoch in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur als eine Tat gewertet. Hinzu kommt, daß sich der Ermittlungs- und Personalaufwand in den vergangenen Jahren deutlich erhöht hat. Auf jeden Ermittler kommen heute vier weitere Mitarbeiter: Computer-, Finanz- und Sprachexperten, Spurensicherung, Juristen und so weiter. Dennoch werden kaum neue Planstellen geschaffen. Etwa 1.000 Mitarbeiter arbeiten beim BKA im Schwerpunktbereich Organisierte Kriminalität. Ein Verfahren dauert im Durchschnitt 16 bis 18 Monate. Vorschläge, wie die Misere überwunden werden kann, gibt es zuhauf. Zumeist läuft es jedoch auf mehr Mitarbeiter hinaus. BDK-Chef Andre Schulz sieht vor allem in der Polizeiausbildung noch Verbesserungsbedarf. Eine eigenständige Ausbildung zum Kriminalisten gibt es derzeit nur beim Bund und in vier Bundesländern. Ansonsten durchlaufen die Ermittler dieselben Stationen wie ein einfacher Streifendienstpolizist, ohne sich spezialisieren zu können.

Den wichtigsten Ansatzpunkt sehen die BDK-Experten jedoch in der Austrocknung der Finanzströme. So würden derzeit noch viel zu wenig illegale Vermögen beschlagnahmt. Der Vorschlag, in solchen Verfahren die Beweislast beim Nachweis der Geldherkunft umzukehren, findet bei den Sicherheitsgesprächen zwar viel Applaus, dürfte mit dem Bundesverfassungsgericht allerdings kaum umzusetzen sein. „Krimineller müßte man eben sein“, murmelt ein Teilnehmer.

 

Organisierte Kriminalität

Allein in Deutschland wurden seit 1974 mehr als ein Dutzend Definitionen für Organisierte Kriminalität veröffentlicht. Weltweit kommen etwa 160 weitere hinzu. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Justiz und Polizei einigte sich 1991, daß Organisierte Kriminalität eine „von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten durch mehr als zwei Beteiligte ist“, die auf „längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig Gewalt gegen Personen oder Sachen anwenden“. Voraussetzung ist die Nutzung „gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen“, die „Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel“ und der Versuch, Einfluß auf „Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft“ zu nehmen.

Das Strafgesetzbuch (StGB) kennt dagegen keinen gesonderten Straftatbestand. Verfahren gegen Gruppen der Organisierten Kriminalität werden in Deutschland unter dem Vorwurf der „Bildung krimineller Vereinigungen“ (Paragraph 129 StGB) verhandelt.

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